Isaac Rosa liefert in seinem neuen Roman Im Reich der Angst in verstörenden Bildern und Details ein Panoptikum der Angst. Sicherlich nichts für ängstliche Naturen.
von TOBIAS THANISCH
Wie reagiert man, wenn man herausfindet, dass der eigene Sohn in der Schule von einem Mitschüler drangsaliert und erpresst wird? Man greift hart durch, spricht mit dem Klassenlehrer, dem Schuldirektor, mit den Eltern des Jungen, vielleicht auch mit diesem selbst. Aber ist das wirklich die Lösung? Oder kann nicht gerade dieses Verhalten unabsehbare, schreckliche Folgen nach sich ziehen?
Mit diesen Fragen beginnt der Teufelskreis für Carlos, Vater des zwölfjährigen Pablo und Protagonist unseres Romans. Er greift eben nicht hart durch gegen Javier, den Peiniger seines Sohnes, sondern versucht ihn immer wieder mit Geld ruhig zu stellen. Dieser erkennt bald die Schwäche seines erwachsenen Gegenübers und nutzt diese nach Strich und Faden für sich aus. Er hat sich das richtige Opfer gewählt.
Denn obwohl Carlos sich nach außen hin nur selten etwas anmerken lässt, ist sein Leben durch seine Ängste bestimmt. Ängste, die ihm immer wieder durch den Kopf gehen, die sich in seinen Träumen und seinen Gedanken festsetzen und sich dort auftürmen, bis sie schließlich seinen Alltag entscheidend beeinflussen. Dabei ist es vor allem seine ausgeprägte Phantasie und der Hang zu genauen und detaillierten Darstellungen, die ihn alle nur denkbaren Szenarien, von denen er nur wenige am eigenen Leib erfahren hat, in Gedanken durchleben lassen. Von dem „Erschießen“ und „Erstechen“, sadistischen Bestrafungsmethoden für „Petzer“, die ihm noch aus seiner Schulzeit gegenwärtig sind, über die Angst vor Körperverletzung, Vergewaltigung und Folter, bis hin zu der „Großen Angst“ vor einem kriegsähnlichen Zustand, in dem Recht und Ordnung aufgehoben sind und Chaos und Anarchie regieren. All dies setzt sich zusammen zu Carlos‘ persönlichem „Reich der Angst“.
Isaac Rosa liefert mit Im Reich der Angst einen Roman, der ein häufig verwendetes Thema auf eine zumindest unkonventionelle Art neu aufgreift. So erfahren wir von Pablo, Carlos‘ Sohn, der zu Anfang das Opfer ist, nur sehr wenig. Stattdessen wird der Verlauf der Erzählung zunehmend auf seinen Vater zentriert und diese wiederum immer wieder von dessen Reflexionen über die Angst im Allgemeinen und im Besonderen unterbrochen. Diese Informationen erhält der Leser auch nicht, wie dies häufig der Fall ist, von einem personalen Erzähler, sondern von einem reflektierenden und auch beinahe unmerklich wertenden Erzähler, der Carlos’ z. T. konfuse oder nur halbbewusste Gedankenwelt für den Leser zusammenfasst. Dabei wird der Kontrast zwischen der distanzierten Haltung des Erzählers, vielleicht auch der nüchternen Denkweise Carlos‘, und den sehr detaillierten und drastischen Darstellungen von Angst und Schmerz für den Leser an vielen Stellen geradezu plastisch greifbar. Der Leser wird förmlich eingeladen, in sich zu gehen und seine eigenen Ängste, ähnlich wie Carlos es tut, akribisch zu analysieren und mit diesen abzugleichen. Dass der Leser dabei, neben fremden, vielleicht auch abwegigen Ängsten, auch auf solche stößt, die er selbst nur zu gut kennt, ist bei der langen Liste, die sich ihm bietet, nur allzu wahrscheinlich.
Was bietet Rosa also seinen Lesern? Im Reich der Angst liefert nicht nur, wie viele ähnliche Romane, ein einzelnes Fallbeispiel, das man in Gedanken unweigerlich als fiktional abstempeln müsste, sondern versucht, allgemeine Gesetze für die Entwicklung und Vermehrung von Angst zu ermitteln. Dies geschieht zunächst nicht explizit oder gar mit dem berühmten erhobenen Zeigefinger, aber schließlich fügen sich die einzelnen Teile zu einem Gesamtbild zusammen, das, wenn es auch letztlich keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben kann, trotzdem erstaunlich tiefe Einblicke gewährt. Die überbordende Phantasie des Protagonisten wird ebenso als verstärkender Faktor angeführt wie verdrängte Kindheitserinnerungen und vor allem der Einfluss von Fiktion und Medien. All dies soll, so ist zu vermuten, zum besseren Verständnis für ein Thema beitragen, über das selten mit der nötigen Sachlichkeit und in der gebotenen Tiefe gesprochen wird – weder in der Öffentlichkeit, noch, und auch das führt uns der Roman vor, im engsten Familienkreis.
Im Reich der Angst ist sicher kein Roman für allzu zarte Gemüter, denen schon ein Polizeibericht im Fernsehen oder die Geschichte von einem Wohnungseinbruch in der Nachbarschaft den Schlaf raubt. Wer sich aber für ein psychologisches Phänomen interessiert, das unter die Haut geht und unweigerlich ein bedrückendes Gefühl hinterlässt, ist mit Isaac Rosa definitiv an der richtigen Adresse. Die Beschäftigung mit den eigenen Ängsten erscheint nicht nur als ein interessanter Zeitvertreib, sondern als unbedingte Notwendigkeit für eine gesunde Psyche und ein glückliches Leben. „Denn es wird stets hinzugefügt, niemals gestrichen, und unsere Ängste werden niemals aufhören zu wachsen“.