Die Protagonistin aus Charlotte Roches neuem Roman Schoßgebete ist stets angespannt, unruhig und erfüllt eifrig bekannte Ehe-Klischees. Fragt sich nur: warum?
Von ESRA CANPALAT
Drei Jahre ist es her seit Charlotte Roche mit ihrem Debütroman Feuchtgebiete eine hitzige Debatte auslöste. Die Protagonistin Helen kämpfte und rebellierte gegen den sterilen Schönheitswahn und den krankhaften Hygienezwang von Frauen, womit sie viele auf ihre Seite zog, andere aber vollkommen abschreckte. Die einen empfanden das Buch als Befreiung, als einen emanzipatorischen Akt Roches, die anderen waren entsetzt und fanden es ekelerregend, detailliert von Helens „Blumenkohl“ um ihre „Rosette“ herum zu erfahren, von zweckentfremdeten Avocadokernen und „Muschischleim“.
Nun ist der neue Roman Charlotte Roches erschienen mit dem ominösen Titel Schoßgebete. Ob Schoßgebete genauso polarisiert wie Feuchtgebiete, bleibt abzuwarten. Fest steht, dass Roche sich wieder einem Tabuthema angenähert hat, nämlich der Ehe. Hierbei stellt sich direkt die Frage: Wie kann das Thema Ehe Tabu sein, vor allem bei einer funktionierenden, wie es bei der Protagonistin Elizabeth der Fall ist? Das Tabuthema ist, um es genauer zu sagen, nicht die Ehe im Allgemeinen, sondern eher die Frage der Förderlichkeit von Monogamie in einer modernen Ehe. Einer Ehe, die unbedingt und in jedem Fall halten soll. Tabu ist, dass Elizabeth den Leser bis ins kleinste Detail an ihren Gedanken, seien es “gute” oder “böse”, teilhaben lässt und somit die Probleme und Schwierigkeiten enthüllt, die höchstwahrscheinlich viele Ehepaare in der westlichen Gesellschaft haben, aber niemals offen aussprechen würden.
Elizabeth ist immer, zu jedem Zeitpunkt angespannt, immer auf der Lauer, immer in Angst, die Kontrolle zu verlieren. Ihr Leben ist geprägt von einem ständigen „Müssen“. Sie muss eine „gute Mutter“ sein, indem sie vermeidet, in Sachen Erziehung dieselben Fehler wie ihre Mutter zu begehen. Das Kind muss immer gesund essen, nur Bioprodukte kommen ihr ins Haus. Aber sogar da muss man aufpassen, weil Bio nicht immer Bio ist. Und vor allem muss sie ihrem Mann gefallen, muss mit ihm ins Bordell, mit anderen Frauen schlafen, obwohl sie vor jedem Besuch vor lauter Aufregung Durchfall bekommt. „Ich löse mich auf in dem Wunsch zu gefallen.“, sagt sie. „Bis nichts mehr von mir übrig bleibt.“
Nur beim Sex mit ihrem Georg, da kann Elizabeth endlich abschalten, all die Sorgen und Peinlichkeiten vergessen. Der Sex mit den Prostituierten macht ihr eigentlich Spaß. Aber auch jeder noch so befreiende sexuelle Akt wird begleitet von ihren Kotrollzwang. Sex gibt es wenn dann nur am Tag, Fenster müssen wegen der Nachbarn geschlossen, die Heizdecke zur Entspannung angemacht werden. Vor den Bordellbesuchen muss sich überall rasiert und hübsch gemacht werden. Dann ist da noch die Angst vor den “Journalisten” der Druck-Zeitung, die sie in Katharina-Blum-Manier belästigt haben. Und zu allem Überfluss wird Elizabeth stets von den imaginären Vorwürfen ihrer männerhassenden Mutter und Alice Schwarzer gestört, die sie, wie Über-Ich-Gestalten auf ihrer Schulter sitzend, plagen.
Doch wieso verfällt Elizabeth stets in diese klischeehaften Rollen? Warum tut sie all die Dinge, die der Frau von der Gesellschaft aufgezwungen werden: eine gute Mutter sein, eine gute, hingebungsvolle Frau sein, eine gute Ehe führen? „How does a cliché become a cliché?“, fragt Elizabeth sich ständig.
Es gibt viele Gründe für dieses Verhalten. Der Hass gegen ihre Mutter und das große Bedürfnis, alles besser zu machen als sie. Die gescheiterte Ehe mit ihrem Ex-Mann. Und der tragische Unfall, bei dem ihre drei Brüder umkamen und der ihr Leben von Grund auf veränderte. Einfühlsam erzählt Roche von der Ohnmacht ihrer Protagonistin infolge dieser „Katastrophe“, von der Hoffnungslosigkeit, die auch der christliche Glaube mit seinen Vorstellungen von einem Leben nach dem Tod nicht wettmachen kann. Von ihren Schuldgefühlen, welche sie vor lauter Verzweiflung abergläubisch werden lassen, obwohl sie Atheistin ist. Der Tod wird zu ihrem ständigen Begleiter, lässt sie zum “Kontrollfreak” werden. Beim Autofahren immer vorsichtig sein, Horrorszenarien durchspielen, damit man immer vorbereitet ist, kurz: dem Tod immer einen Schritt voraus sein. Vor allem sind es die egoistisch und selbstsüchtig anmutenden Gedanken Elizabeths im Zuge dieser Familientragödie, die zum einen schockieren, zum anderen aber auch für den Leser nachvollziehbar sind.
Das ist es, was den Roman aufregend macht: Elizabeth spricht Dinge aus, die womöglich ebenfalls in unseren Gedanken schwirren, Dinge, die wir uns niemals trauen würden auszusprechen. Weil man glaubt, es wäre falsch zu sagen, dass man in manchen Momenten den Tod anderer Menschen herbeisehnt. Oder dass das Kind einem manchmal mächtig auf die Nerven geht. Oder dass man unbedingt mal mit jemand anderem als dem Mann schlafen muss, um seine Ehe weiterführen zu können. Dass Monogamie eben nicht immer auf lange Sicht das richtige Rezept für eine funktionierende Ehe ist. Elizabeth ist eine Figur, die zwischen zwei Polen changiert: Sie ist die perfekte, dem gesellschaftlichen Klischee entsprechende Frau, doch ist sie auch die Frau, die diese Klischees hinterfragt und reflektiert betrachtet. Das Klischee wird also zum Klischee, wenn man wie Elizabeth versucht, weiterzumachen, weiterzuleben für ihren liebevollen und starken Mann und ihr Kind.
Schoßgebete ist sicherlich kein Meilenstein der Literatur. Auch stilistisch bietet der Roman keine besonderen Höhenflüge, ist stets mit umgangsprachlichen Floskeln der Ich-Erzählerin gespickt. Leser, die bereits bei den Kraftausdrücken in Feuchtgebiete auf die Barrikaden gegangen sind, werden hier von Neologismen wie „Klitorisgediddeldididdel“ oder „Kotzezäpfchen“ nicht verschont bleiben. Schoßgebete ist ein kurzweiliger Roman, der zum Nachdenken anregt über die eigenen Rollen, in die man krampfhaft versucht zu schlüpfen, darüber, wie ehrlich man zu sich und zu anderen ist. Es ist ein Roman, der uns zweierlei deutlich macht:
Warum es für viele einfach Sicherheit und Halt bedeutet, wenn man ein alltägliches Leben mit Ehepartner und Kind führen will, gleichzeitig aber diese Monotonie vermeiden will, um die Ehe zu retten.
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