Der erste Roman des Schauspielers Josef Bierbichler wird als Epos über Krieg, Zerstörung und Familie beworben – allerdings wäre hier weniger wohl mehr gewesen.
von ANNE REUS
Josef Bierbichler stammt aus einer Familie von Landwirten am Starnberger See. Wen wundert es da, dass sein erster Roman in einem nicht näher benannten Dorf am See spielt, welches der nahegelegenen Hauptstadt als Ausflugsziel dient, und über 400 Seiten den Aufstieg und Niedergang der Familie des Seewirts verfolgt. Der Roman beginnt mit einer Rückblende zum Anfang, als die Bauern noch zufrieden in ihrer Dorfgemeinschaft lebten, ohne von den Sommergästen, den Städtern, mit jener undefinierbaren Unzufriedenheit, diesem Streben nach Kunst und Kultur und Individualität infiziert worden zu sein. Erst in der nächsten Generation zeigt sich deren Einfluss: Pankraz, der jüngere Sohn, träumt von einer Karriere als Sänger. Doch als sein älterer Bruder geisteskrank aus dem ersten Weltkrieg zurückkehrt, wählt er aus „Existenzangst“ das Leben als Wirt. Er wird zum geschäftstüchtigen Familienvater, der seine Feigheit mit Katholizismus tarnt und den Gasthof in ein Ressort für die Größen der Kunstszene verwandelt. „Pseudoherrschaftlich mit anti-bäuerlichen Dünkeln“, entscheidet er, was für seine Kinder angemessen ist. Dass diese trotzdem ihr eigenes Leben führen wollen und nicht seinen Plänen folgen, sieht er als Scheitern seiner ganzen Existenz.
Diese Handlung ist eingebettet in die deutsche Geschichte der letzten 100 Jahre: die Weltkriege, das Dritte Reich, Flüchtlinge, Wirtschaftswunder und Gastarbeiter. Bierbichler verknüpft immer wieder einzelne Abschnitte der Handlung mit historischen Ereignissen: der Knecht Ziegltrum, der sein auf Kredit gekauftes Motorrad und den Fernseher wieder verliert, läutet die Konsumgesellschaft ein, die Faschingsfeier folgen Betrachtungen zur Spaßgesellschaft, immer wieder dienen Stammtischabende dazu, die verschiedenen Formen des hartnäckig überlebenden Nationalsozialismus in der Dorfgesellschaft zu illustrieren. Immer wieder wird auch das tiefsitzende Misstrauen der traditionsorientierten Bauern den fortschrittlichen Städtern gegenüber thematisiert, nicht zuletzt in einem didaktischen Dialog zwischen „Fachmann“ und „Laie“ über Politik, Bauern und den Freitzeitmenschen. Auch die häufigen Abschweifungen in Form von Anekdoten und Lebensgeschichten von Nebencharakteren dienen dazu, den geschichtlichen Hintergrund beispielhaft darzustellen. Dadurch bekommt man zwar viele Einblicke ins letzte Jahrhundert, leider leidet darunter aber auch das Lesevergnügen: Es entsteht der Eindruck, das Bierbichler gewissenhaft eine Liste der wichtigsten Ereignisse des Jahrhunderts abarbeitet. Der Standpunkt ist dabei allerdings immer patriarchalisch: Frauen tauchen höchstens am Rande der Geschichte als Ehefrauen, Mütter oder lästige alte Jungfern auf.
Es scheint allerdings, dass der Autor unbedingt seine Vielseitigkeit beweisen will: Vor allem der Anfang des Romans ist in einen altertümlich-dialektalen Chronistenton gehalten, der Dialog zwischen Fachmann und Laie wird als stilistische Abwechslung in die Erzählung eingeschoben, und auch die obligatorischen metafiktionalen Hinweise des Erzählers fehlen nicht. Immer wieder tauchen außerdem surreale Elemente auf, die im bayrisch-dörflichen Kontext seltsam deplatziert wirken: So schlachtet und räuchert Pankraz an Weihnachten den bayrischen Prinzen Konstantin, der Laie und der Fachmann verwandeln sich in Maikäfer, die im See ertrinken, und die jungfräuliche Magd Alte Mare steigt nach der Pontifizierung Johannes Paul II. in den Himmel auf.
Leider gleitet die Geschichte immer wieder in übertriebene Dramatik ab. Die Frau des Seewirten stirbt nicht einfach, sondern wird vom Blitz getroffen. Ihr Sohn, der ihr die Klosterschule und den Missbrauch durch einen Mönch nie vergeben hat, legt sich in einer ödipalen Inzestszene nackt zu der Pflegebedürftigen ins Bett; den Mönch, der ihn missbrauchte, schlachtet er (und entgeht natürlich der Entdeckung durch die Polizei). Und wenn das aus Polen geflohene adelige Fräulein von Zwittau vor der Vergewaltigung durch russische Soldaten bewahrt wird, weil sie eigentlich ein Hermaphrodit ist, sie außerdem erfährt, dass sie adoptiert ist und ihr Verlobter nicht, wie alle glauben, im ersten Weltkrieg starb, sondern seinen Tod zusammen mit ihrer Mutter inszenierte, um ohne Gesichtsverlust aus der Verlobung zu kommen, erinnert das Ganze schon stark an eine Telenovela.
Die Stärke des Romans liegt in der Darstellung der Dorfgemeinschaft, der Verdrängung und Glorifizierung der Nazizeit durch die Dorfbewohner und in den eingeschobenen Anekdoten, die Nebenfiguren zielsicher charakterisieren. Trotz der vielen Abschweifungen ist es nicht schwer, der Handlung zu folgen, da sie durch ihre Geschichtsorientierung chronologisch gut einzuordnen ist. Allerdings bleibt man seltsam unberührt von dem Schicksal der Protagonisten. Während man die Tode der Nebenfiguren oft mit Bedauern erlebt, ist keines der Familienmitglieder ein Sympathieträger. Das Buch endet mit Pankraz‘ Sohn Semi, der, im Taubenschlag versteckt, den alternden Angestellten Viktor fünf Tage beim Verhungern beobachtet. Als Leser hofft man da sehr, dass dies auch das Ende der Familie bedeutet.
Pingback: In eigener Sache: Gegen die Krise anschreiben | literaturundfeuilleton