Da lese ich mich durch 500 Seiten und weiß am Ende immer noch nicht, worum es im Kern ging. Martin Walser erschlägt den Leser mit seinem Wälzer Muttersohn und mit der Gedankenfülle, die einem von jeder beliebig aufgeschlagenen Seite entgegenströmt.
von FABIAN MAY
Der Roman erzählt das Leben des Pflegers Percy; einem Quasi-Jesus, dem seine Mutter erzählte, er sei ohne Mitwirkung eines Vaters auf die Welt gekommen; im schlafwandlerischen Bewusstsein, geleitet zu sein, wandelt er durch das Irrenhaus Scherblingen, in dem er wohnt und arbeitet, und durch Talkshows, in welchen er verdutzten Moderatoren seine amouröse Enthaltsamkeit begründet: Er wolle mit jeder Frau ewig zusammen sein, jede verdiene alles von ihm, und weil das nicht gehe, wähle er keine.
Dabei scheint Percy – Schützling des Orgel spielenden Irrenhausdirektors – selbst ziemlich jenseits von allem zu sein. Er duzt jeden, weil’s im Lateinischen auch so ist. Jedem der Patienten kommt er nahe, aber durch seine Einlassung scheint er doch ihren Wahnsinn nicht zu bestätigen, sondern sie auf den Teppich zurückzubringen.
Die Psychiatrie ist hier Weltmetapher und Wohnort der anderen Vernünftigen. Da ist Grete, die Percy wegen seiner akzeptierenden Art anfeindet, mit der er tagelang im Kreis läuft und sie wirre Texte nachsprechen lässt, die er vorsagt, bis beide nicht mehr laufen und sprechen können. Und da ist Innozenz, der die Gedankenwelten seiner Mit-Irren in einer Anthologie sammelt und zugleich den Verlust unserer gedanklichen Unschuld beklagt, „seit wir ein Text sind“: „die entsetzliche Trennung der Existenzen in solche und solche. Die gewollte oder doch lachend geduldete Unverständlichkeit ganzer [Lebens- und Wissens-]Bereiche.“
Nur den Patienten Ewald Kainz kriegt Percy nicht geknackt. Die Psychiatrie Scherblingen hat einen Selbstmörder dieses Namens aufgesammelt. Welch ein Zufall, dass so auch der Mann hieß, der das Leben von Percys Mutter Fini mit 40 Minuten politischer Rede umkrempelte.
Nicht dass es in diesen Rückblicken handfest politisch zuginge. Muttersohn verpflichtet sich zuallererst der persönlichen Sphäre von Percy und der seiner Mutter Fini, in deren Gegenwart alle heterosexuellen Männer zu zittern beginnen. Percy sei (wie sie) geleitet, ein Engel ohne Flügel, sagt sie liebevoll zu ihrem kleinen Sohn und bringt ihm anhand brutaler Liebesbriefe das Lesen bei. Keine konventionelle Art, aufzuwachsen. Entsprechend unkonventionell geht Percy als Erwachsener im unerschütterlichen Glauben an etwas Großes (an was genau eigentlich?) durch sein Leben, therapiert sich bis in die Kleinhirne seiner Patienten, spricht ohne Redeanlass oder Richtung vor Menschenmengen, was ihm gerade so einfällt, und begeistert sie damit.
Lateinisch und literarisch wird es in Muttersohn auch oft. Fini, die sich zeitlebens für eine dumme Bauerngans hält, und ihr homosexueller Ehemann Arno, der mal Nazi war, sprechen in Zitaten; sie in Schiller, Horváth, Rilke, er nur in Arno Schmidt. Und – wie der irre Innozenz betont – in allem ist eine Bedeutung zu finden.
Das alles liest sich für mich (Otto Normalleser) so anstrengend, wie es klingt. Walser weiß natürlich, dass er mit einer konventionellen Sprache viel weniger Denkaufwand gehabt hätte. Doch mit dem Theosophen Jakob Böhme sagt er, allen Härten des Verständnisses vorbeugend: „Wer es verstehen kann, der verstehe es. Wer aber nicht, der lasse es ungelästert und ungetadelt. Dem habe ich nichts geschrieben. Ich habe für mich geschrieben.“
Man kann annehmen, Walser habe nichts Einfaches liefern wollen. Die dargestellte Welt ist eine, die an unsere erinnert, meistens verlaufen die Dinge aber anders, als man erwarten würde. Walsers Stil ist eigen und innerlich, wobei seine Wortschöpfungen fast immer einleuchten; sie bereichern die Gedankenwelt des Lesers um neue Lexikoneinträge: „Entwordenheit“; „Vernichtigkeit“, „Lippentrotz und -protz“ und „umarmerisch“.
Und nun – am Ende von Buch und Rezension – fühle ich mich Tor ebenso unfähig, einen klaren Abriss von Muttersohn zu geben, als wie zuvor. Aber das hat Methode. Der Roman will das nicht mit sich machen lassen. Eins steht fest: Ich gehe bereichert aus ihm hervor. Danke, Martin. Tu autem.