Angelika Klüssendorfs neuer Roman Das Mädchen lässt uns bereits in den ersten Sätzen erahnen, was uns erwartet, und so zieht sich das Elend, in dem das Mädchen aufwächst, wie ein roter Faden durch das Buch.
von ALINE PRIGGE
„Scheiße fliegt durch die Luft, streift die Äste einer Linde, trifft das Dach eines vorbeifahrenden Busses, landet auf dem Strohhut einer jungen Frau, klatscht auf den Bürgersteig.“ Der erste Satz aus Angelika Klüssendorfs neuem Roman ist nicht das, was man erwartet, wenn man ein neues Buch aufschlägt. Ebenso wie dieser Satz ist auch die Geschichte, die der Roman erzählt, unerwartet, erschreckend und frustrierend hoffnungslos. Die Flugbahn der Scheiße ist fast symbolisch für den Lebensweg des Mädchens, stets streift sie Dinge, aber fallen tut sie trotzdem.
Das Mädchen, die zwölfjährige Protagonistin des Romans, begleiten wir auf seinem Weg zum Erwachsenwerden. Seine Geschichte spielt in der DDR und weist mit kalter Distanz auf die Missstände im Leben des Mädchens hin. Der kleine Bruder ist in sich zurückgezogen, die Mutter quält die Kinder, ein Vater ist zumindest zu Beginn des Romans nicht existent, im weiteren Verlauf wird er immer wieder durch neue Liebhaber ersetzt.
Zu Beginn lebt das Mädchen alleine mit seiner Mutter und dem kleinen Bruder Alex in einer Mietwohnung. Der Mutter gefällt es, die Kinder alleine zu lassen und zu misshandeln. Das Mädchen macht jedoch schnell klar, dass es sich bereits so weit von ihrer Mutter distanziert hat, dass jegliche Strafen es nicht mehr interessieren. Dennoch übernimmt die Protagonistin das Verhalten der Mutter und probiert sich selbst an ihrem Bruder aus. Sei es, indem sie ihm als Gespenst verkleidet befiehlt, sein Nachthemd in seinem Urin zu waschen, oder indem sie ihn einfach direkt schlägt.
Von heute auf morgen zieht der Vater ein. Zuerst scheint es, als hätte die Gewalt ein Ende, doch der Vater ist Alkoholiker, die Mutter von einem anderen Mann erneut schwanger. Ihre Unzufriedenheit lassen die Eltern, vor allem die Mutter, an ihren Kindern aus. Schließlich ist der Vater wieder weg, das ungeborene Kind auch.
Mehrfach läuft das Mädchen von Zuhause und der Gewalt davon, kommt schließlich zum Vater. Er nimmt es mit an die Ostsee, eine neue Frau im Gepäck. Nach einer kurzen Verschnaufpause der Gemeinheiten kippt die Situation. Das Mädchen kehrt zurück zu seiner Mutter.
Dort wartet ein neuer Mann und eine neue Schwangerschaft der Mutter. Der neue kleine Bruder Elvis gibt dem Mädchen ein wenig Hoffnung; das Baby ist das erste Wesen, das es uneingeschränkt zu lieben scheint und dem auch die junge Heldin ihre Liebe schenken darf. Dennoch ist die Situation nicht tragbar. Sie kommt ins Heim.
Das Heim soll ein ganz neues Kapitel ihres Lebens sein, doch sie scheitert. Der Roman schließt nach dem ganz knapp geschafften Schulabschluss, mit dem Beginn ihrer Ausbildung zur Rinderzüchterin, auf die sie keine Lust hat.
Klüssendorfs Roman liest sich wie eine Aufzählung von Elend, das den Leser immer wieder zurückschrecken und sich ekeln lässt. Die wenigen schönen Dinge, die das Mädchen in seinem Leben erfahren darf, eine Freundschaft in der Schule, die Mutterfigur Ellen oder aber auch das erste Mal verliebt zu sein, werden innerhalb weniger Sekunden wieder von einer Schrecklichkeit überschattet. So sieht es zum Beispiel den vergeblichen Versuch ihrer Mutter, ihr ungeborenes Kind mit einer Stecknadel abzutreiben, mit an.
Die Mutter lässt das Mädchen in jeder Situation Gewalt erfahren, sei es durch Schläge oder psychische Gewalt. Bei diesem Hintergrund ist es nicht erstaunlich, dass die Tochter das Verhalten ihrer Mutter übernimmt. Angefangen bei ihrem kleinen Bruder, misshandelt sie immer wieder ihre Mitmenschen. Sie erkennt, dass sie eigentlich nicht so handeln möchte, aber sie lernt, dass wenn sie andere zum Opfer macht, sie selbst nicht mehr das Opfer ist und sogar eine angesehenere Position in ihrer Gesellschaft einnimmt.
Was jedoch überrascht, ist die neutrale und distanzierte Erzählweise, in der die Geschichte präsentiert wird. Kurze Sätze und Aneinanderreihungen von Hauptsätzen oder Aufzählungen bestimmen das Bild des Romans. Immer wiederkehrende Zeitsprünge geben der Erzählung eine fragmenthafte Wirkung. Das sorgt dafür, dass man das Mädchen nicht als Opfer empfindet. Das Mädchen selbst ist distanziert seiner Mutter gegenüber, empfindet in keiner Situation Mitleid mit ihr. Es verlässt seine Familie ohne sich um seinen Bruder zu sorgen, den es zurücklässt.
Dennoch zeigt das Mädchen an vielen Stellen des Romans einen unglaublichen Willen, sich aus dem Zirkel des Elends zu befreien und ein besseres Leben anzufangen. Von irgendwoher nimmt es die Kraft auch die schlimmste Niederlage oder Demütigung zu ertragen und weiter zu kämpfen. Dass die Protagonistin es kann, zeigt sich in ihrer Liebe zu dem neugeborenen Sohn ihrer Mutter Elvis, er wird für sie zu einem eigenen Kind, dessen Wohl sie über alles stellt. Dennoch scheitert sie an den sozialen Umständen und daran, dass sie sich selbst nicht zugesteht glücklich zu sein und geliebt zu werden. Irgendwann auf den letzten Seiten, wenn schon alles zu Ende scheint, kommt die Hoffnung. Trotz aller Umstände, Widrigkeiten und Misshandlungen hat sie nicht verlernt zu träumen und sich auf sich zu besinnen.
Und so endet der Roman, wie er begann. Zum Anfang fliegt Scheiße, am Ende Vögel, und mit ihnen fliegen ihre Träume.
Mit viel Liebe zum Detail schildert Angelika Klüssendorf die Geschichte des Mädchens, die in groben Zügen Parallelen zu ihrer eigenen Jugend aufweist. Doch trotz Ausschmückungen und einem genauen Einblick in die Gefühlswelt der Protagonistin wird sie für den Leser nicht greifbar. Eben durch diese Unnahbarkeit des Mädchens ist der Roman auch keiner, der zum Nachdenken anregt. Das Schicksal scheint eins unter vielen zu sein, zu normal ist Misshandlung in der heutigen Gesellschaft, zu schnelllebig die Zeit.