Island, 1912: Wiesen, Schafe Holzhütten und betrunkene Dichter. Die Übersetzung von Thórbergur Thórdarsons Roman Islands Adel (S. Fischer) öffnet ein Fenster in ein längst vergangenes Leben. Ein Ausschnitt aus dem Leben eines Protagonisten, der zufällig den Namen des Autors trägt und schreibt: Ich.
von MARCEL WIDJAJA
Schritte hallen durch eine sonst stille Nacht in irgendeiner kleinen, schmutzigen, isländischen Stadt, wie es gewiss hunderte gegeben hat. Hier findet die Begegnung mit Thórbergur statt, im Moment der Inspiration, die ein Gedicht zur Folge hat, das ihn noch lange begleiten wird.
Doch dann bricht die Liebe ein und Thórbergur geht fort aus dieser Einöde, der Leser mit ihm. Viele Stationen der unterschiedlichsten Manier liegen auf seinem Weg, doch kein Abgrund ist zu tief und kein Nadelöhr zu klein, um weiterzugehen in der Hoffnung, seine Geliebte wiederzusehen. Von dieser erfahren wir jedoch fast nichts, sie bleibt ein Phantom, das sich auf den ersten Seiten Türen schlagend bei einem flüchtigen Abschied zeigt und in der Ferne verschwimmt.
Es gibt ein großes Problem: Geld. Geld, das Thórbergur nicht hat, weil er vom Dichten nicht leben kann. Nicht in Island. So findet er sich wieder in den wonnigen Tiefen der körperlichen Arbeit, um sich wenigstens am Rande einer Existenz zu halten. Straßenbau und natürlich der Heringsfang ermöglichen Thórbegur ein ärmliches Leben zwischen Dichtung und Brénnivin. Der Alkohol, der zum Teil skurrile Szenen erschafft.
Doch Thórbergur ist nicht der einzige Dichter, der sich mit mannsroher Arbeit verdingen muss. Eine Reihe von gleichgesinnten und verkannten Genies bildet eine Entourage um Thórbergur, in der der wahre Dichterhimmel zu Tage tritt. Bei alkoholgetränkten Gelagen in Gasthöfen, deren Rechnung sie nicht einmal bezahlen können, wird die wahre Schönheit von Dichtung diskutiert. Mal freundschaftlich ehrend, mal unübertroffen gemein wird wild debattiert, wer ein wahrer und wer ein guter Dichter sei. Trotz dieser Brüderlichkeit streben alle zeitweise auseinander, um sich auf die eigene Suche zu begeben, der Suche nach dem Leben. Auch sie sind Männer, die vom einen auf den anderen Tag leben, weil sie nicht anders können. Doch jeder führt auf seine Weise eine mitunter zweifelhafte Existenz, die von ungewöhnlichen Problemen und ungewöhnlichen Lösungen durchzogen ist. Sie sind ein fadenscheiniger Zimmermann, ein unglücklicher Spekulant und ein Mann mit nur einem Bein, der um keine Arbeit verlegen ist. Aber in erster Linie sind sie alle Dichter.
Thórbergurs Suche läuft derweil immerfort. Auf den Spuren seiner Geliebten und den grenzenlosen Weiten der Imagination, erschafft der Dichter seine Dichtung in wohligem Bewusstsein der Sehnsucht und Leidenschaft, die gleichsam erst seine träumerische Poesie möglich machen. Beinahe beiläufig, zufällig und ungewollt finden wir Thórbergur dann an dem Ort wieder, an welchem alles seinen Anfang genommen hat: „In diesem Kaff aus hässlichen Blechbuden, offenen Abwasserrinnen und matschigen Pfaden (…).“ Und unweigerlich kommt die Frage auf, wonach er die ganze Zeit gesucht hat, denn von der Geliebten ist keine Spur zu finden, keine einzige. Die letzte Hoffnung bleiben die Gedichte, doch auch sie verschwinden in einem verlorenen Koffer verstaut, im Nirgendwo.
Thordarson schafft eine Abbildung eines scheinbar unberührten Islands. Sonnenüberflutete Fjorde und taubenetzte Wiesen erstehen aus den Zeilen, die uns Thórbergurs Reise näher bringen möchten und erschaffen einen Eindruck der schweren Pathetik einer Dichterseele. Zwischen den einzelnen Stationen des Protagonisten sind die Gedichte gefasst, deren Entstehung verortet werden. Auch sie sind teilweise vom Pathos und der leidenschaftlichen Sehnsucht durchzogen.
Leider ereilt den Leser jedoch allzu oft der intensive und expressive Wunsch, einen schwarzen Filzstift zur Hand zu nehmen und das Gesamtwerk von Sätzen Thórbergurs wie diesem zu befreien: „Warum hielt mir das Schicksal nun eine solch ungeheure Standpauke?“ Diese Standpauke wäre am besten dem realen Thórdarson gehalten worden, weil er Rosamunde-Pilcher-Kitsch ungeübten Lesermägen zugemutet hat, in denen der gesamte Pathos seines Schreibstils gipfelt. Mit diesen Ausdrücken wird man im Laufe der Lektüre hin und wieder konfrontiert und muss sie verkraften. Doch hier bleibt zu erwägen, ob nicht die Übersetzung ihren Teil dazu beigetragen hat. Immerhin, das Original ist nicht des neuesten Datums: 1938 ist der Roman in Island erschienen.
Alles, was nach der Lektüre bleibt, ist ein Gefühl. Ein Gefühl, das in diesem Roman aufgezeichnet und entzerrt in Worte übersetzt worden ist und Tage nachklingt. Dieses Gefühl, es scheint der Verweis auf die Reise des eigenen Ichs zu sein, die jeder selbst erzählen könnte. Eine Reise, deren Ziel und Zenit vielleicht irgendwann im Nichts verschwindet und uns orientierungslos zurücklässt.
Eine schöne Beschreibung eines Dichters auf der Suche nach Freiheit in der Unendlichkeit und auf einer Reise zu sich selbst…
Für mich, der das Buch nicht gelesen hat, stellen sich folgende weitere Fragen:
Hat der Autor dafür nachempfindbare Imaginationen gefunden?
Hat der Protagonist dafür nachvollziehbare Inspirationen formulieren können?
Und ist das Gefühl, das dadurch am Ende bleibt, ein pessimistisches, weil wir das Ziel nach der Geschichte nie erreichen können, oder auch eins, dass es uns ermöglicht, unsere Fragen daran anzuschließen?
Sehr interessante Fragen! Mir erscheint der Text teilweise, als stamme er aus einer anderen Welt, aus einem anderen Empfindungskosmos, dessen Zugang dem Leser in deutscher Sprache häufig verwehrt bleiben wird. Die Imaginationen und deren Umsetzungen durch Inspiration sind meines Erachtens nur sehr schwer nachzuvollziehen. Es scheint, als bediene sich die Förderung eines Gefühls von Empathie einer anderen Sprache, anderen Zeichen und Indikatoren, als man gewohnt ist. So bleibt immer etwas Fremdes zwischen mir, dem Leser und dem EInstieg in die Welt des Protagonisten. Es bleibt auch die Frage, welchem Punkt diese Barriere entstammt, ist es die Übersetzung, ist es der historische Abstand, oder ist es die Eigenart der Isländer, also sind es geopraphische Abgründe? Gestört wird die verklärte Anmut der idealisierenden Beschreibungen und Schilderungen auch durch den häufig auftretenden Charakter des Lächerlichen, der besonders in den Episoden zutage tritt, die in Verbindung von Thórbergur zum Alkohol stehen. Das ist oft sehr schade. Die Komik dieser Szenen und die Würde der Dichtung treten an vielen Stellen in Konkurrenz und buhlen um die Aufmerksamkeit des Lesers, sodass es schwierig wird, wenn nicht gar unmöglich, sich dem einen, wie dem anderen hinzugeben und zu öffnen. Das Gefühl danach? Ich stehe von einem Tempel, in dem erstaunlich schöne und wahre Dinge zugehen müssen. Der von außen interessant und anmutig wirkt und Unendliches verheißt. Ich stehe vor der goldbeschlagenen Pforte, doch sie bleibt verschlossen. . .