„Der Himmel verfügt über endlose Mengen an Schnee. Es fallen Engelstränen, sagen die Indianer im Norden Kanadas, wenn es schneit. Hier schneit es viel, und die Traurigkeit des Himmels ist schön, sie ist eine Decke, die den Boden vor Frost schützt und den dunklen Winter erhellt, doch sie kann auch kalt und unbarmherzig sein.“
In hochpoetischer Sprache erzählt der isländische Erfolgsautor Jón Kalman Stefánsson in Der Schmerz der Engel vom Leben am Rande der Welt, dessen gewaltiger Mantel aus Eis und Schneesstürmen den Faden des Lebens ständig zum Reißen gespannt hält.
von NINA HENZE
Im Norden Islands, um den Beginn des vergangenen Jahrhunderts: In einem kleinen Fischerdorf hoffen die Einwohner in den späten Apriltagen vergeblich auf die ersten Zeichen des Frühlings. Auf seinem Pferd festgefroren, erreicht der Landpostbote Jens mit letzter Kraft den Ort und entrinnt wieder einmal nur knapp dem Tode.
Die Natur herrscht über dieses Land, das ist bereits nach wenigen Sätzen des ersten Romanteils deutlich, der sich in dem kleinen Küstenort abspielt. Die Lebensumstände sind schwierig, Armut und Hunger beherrschen den Alltag und drücken auf die Seelen, die mit den Schicksalen kämpfen, die diese raue Welt ihnen beschert. Der Tod ist allgegenwärtig, immer wieder kommen Menschen im Kampf mit den Naturgewalten um. Wer lebt, sucht seine Sehnsucht nach Wärme und einem besseren Leben, häufig in Alkohol zu ertränken. Die menschlichen Tragödien, die sich anschließen, sind so grausam und erbarmungslos wie das Wetter.
Im Dorf lebt der Junge, der als einzige Figur der Geschichte namenlos bleibt. Das heranwachsende Waisenkind, von der Besitzerin einer Gaststube am Ort aufgenommen, liebt die Literatur und vertreibt den Bewohnern des Hauses mit Shakespeare-Lektüre die Zeit. Doch dann soll der Junge den Postboten Jens auf einer weiteren Postreise durch die weiten Fjorde begleiten und mit dem zweiten Teil des Buches beginnt ihr lebensbedrohlicher Weg über Hochplateaus und Berghänge bis in die nördlichsten Zipfel des Landes.
Mit überwältigender Macht schlägt die Natur auch auf dieser Reise zu, bringt den Jungen und Jens immer wieder an den Rand ihrer Kräfte. Aber die Not knüpft ein besonderes Band zwischen den beiden und im Kampf um das nackte Überleben stellen sich der verschlossene Postbote und der verträumte Junge die essenziellen Fragen über den Tod, die Liebe und den Sinn des eigenen Daseins. An einem der wenigen Zufluchtsorte ihrer Reise, in einem Bauernhaus, erhalten sie dann ein ganz besonderes Poststück, dessen Beförderung sie abermals an den Rand ihrer Existenz treiben wird.
Mit Der Schmerz der Engel setzt Stefánsson die Geschichte des Jungen fort, die er in seinem Vorgängerwerk Himmel und Hölle begonnen hat. Dabei beherrscht der mit dem diesjährigen Per-Olov-Enquist-Preis ausgezeichnete Autor die Bildersprache bis zur Perfektion, in seinen Worten rücken die Eislandschaften ganz nah, spürt man die Machtlosigkeit der Menschen gegenüber den bitterkalten Kräften der Natur. Schwierig ist allerdings Stefánsson Hang zu geschmückten Sentenzen, die den Text wie Pflastersteine kleiden. Ihr moralisch-belehrender Auftritt wirkt in dieser Fülle übertrieben, der Text könnte getrost auf sie verzichten, ohne an poetischer Anziehungskraft zu verlieren. Trotzdem bleibt der Roman eine sprachliche Abenteuerreise in eine absolut entlegene Region Islands, deren Bekanntschaft es sich zu machen lohnt.