Jan Brandt liefert mit seinem Debütroman Gegen die Welt sprachlich und optisch großes Kino in einer beschaulichen ostfriesischen Dorfkulisse, das den Leser von der ersten bis zur letzten Seite fesselt und zu Recht oft als das deutsche Debüt 2011 gefeiert wird.
von LINA LOUISA KRÄMER
Der Roman Gegen die Welt erzählt die Geschichte von Daniel Kuper, einem Jungen, der im beschaulichen Dörfchen Jericho in Ostfriesland aufwächst und nach und nach in immer mehr Schwierigkeiten gerät. Am Anfang des Romans zeichnet sich noch ein idyllisches Familienleben ab. Daniel wird von seiner Vollzeitmutter Birgit wohl umsorgt und auch Familienvater Hard muss sich um nichts als seine Drogerie im Erdgeschoss des Hauses kümmern. Bald wird klar, dass sich Birgit nach der Geburt der Zwillinge und Daniels Einschulung mehr vom Leben wünscht, als nur für die Familie da zu sein. Mit diesem Wunsch beginnt ihre langsame Emanzipation gegenüber ihrem auf traditionelle Rollenverteilung und traditionelle Werte bestehenden Mann. Im Laufe des Geschehens steigt Birgit in den Familienbetrieb ein und lässt sich schlussendlich von Hard scheiden, da sie erkennt, dass sie ihn nur geheiratet hat, weil sie mit Daniel schwanger war. Hard selbst betrügt sie während ihrer Ehe mit zahlreichen anderen Frauen, sieht sich aber immer im Recht, da Birgit nur noch selten Interesse an ihm zeigt. Es wird immer deutlicher, dass Hard Angst vor Veränderungen und um seine alten Traditionen hat und deshalb versucht, diese durch Prügel oder Brandstiftung zu erhalten.
Die Handlung indes verdichtet sich, je mehr Menschen in Daniels Umfeld treten. Die Erzählperspektive wechselt von Daniel zu seinen Eltern, den Lehrern und seinen Mitschülern und neben Daniels Lebensgeschichte gelingt es Jan Brandt, zahlreiche andere Handlungsstränge einzuflechten, so auch die Geschichte des Scheiterns der Ehe seiner Eltern.
In der Grundschule lernt Daniel Volker und Simone kennen, seine ersten Freunde, deren Lebensgeschichte eng mit seiner eigenen verbunden ist. In der dritten Klasse kommt es das erste Mal zu einem Zwischenfall, der Daniel zu einer kleinen Berühmtheit im Dorf werden lässt. Er wird, nachdem er nicht von der Schule zurückgekehrt ist, als vermisst gemeldet und wenig später nackt in einem Kornkreis liegend in der Nähe von Jericho gefunden. Daniel selbst kann sich scheinbar an nichts erinnern. Die Medien inszenieren den Vorfall als Übergriff von Plutoniern auf Daniel, was immer mehr Aufsehen in Deutschland erregt. Daraufhin reisen zahlreiche Alien-Hobbyforscher und Fachleute nach Jericho, um den Kornkreis und Daniels Verhalten zu erklären. Im Laufe des Romans stellt sich nebenbei heraus, dass Daniel den Kornkreis selbst niedergetrampelt hat, die Frage nach dem Warum muss aber jeder Leser für sich selbst beantworten.
Mit dem Wechsel auf das Gymnasium vergisst Daniel seine alten Freunde und lernt Onno, Rainer und Stefan kennen. Die vier verbindet bald schon ein dunkles Geheimnis, denn sie haben Peter Peters, einen anderen Klassenkameraden, zu einer Mutprobe auf die Gleise getrieben und Peter wurde von einem Zug überrollt. Nach dem tragischen Unfall wird der Fokus der Handlung auf Rainers, Onnos und Stefans Lebensgeschichten gelegt, die allesamt tragisch enden. Rainer stirbt nach einem Autounfall an Silvester, bei dem Onno querschnittsgelähmt wird. Nur Stefan, der auch im Auto sitzt, bleibt unverletzt. Onno bringt sich mit einem Hammer während eines Konzerts seiner Band um, nachdem er erkennt, dass er nie wieder so Schlagzeug spielen können wird wie früher. Stefan schafft es bis zum Studium in Münster. Er aber verrennt sich in der Plutoniertheorie von damals und bringt sich und Simone, seine Freundin, im heimischen Keller aus Angst vor der Invasion um. Stefan schreibt Birgit zuvor einen Brief, aus dem hervorgeht, dass Daniel sich noch während der Schulzeit auf dem Schützenfest in Jericho umgebracht hat.
Die Handlung springt dann wieder zurück zu jenem, von dem der Leser eigentlich schon weiß, dass er sterben wird, nur das Wie und Warum wird nun geklärt. Das Ende des Romans wird aus der Ich-Perspektive von Volker erzählt, der auf sein Leben zurückblickt und seine unerwiderte Liebe zu Daniel schildert. Er wird Pfarrer in einer kleinen Gemeinde und versucht vergeblich, das Geschehene und Daniels Tod zu vergessen.
Jan Brandt gelingt es in seinem Roman, durch die Macht der Sprache die Handlung zu verlangsamen oder zu beschleunigen. Er schafft Muster, die den Leser die ostfriesische Kleinbürgerlichkeit nachfühlen lassen. Jedes Kapitel, das in der Schule oder bei Daniel am Essenstisch spielt, enthält die gleiche wiederkehrende Handlung. Wie Daniel fühlt man sich gefangen in seinem Leben und in Jericho und kann dessen Wut und Aussichtslosigkeit nachvollziehen. Seit dem Vorfall im Maisfeld wird er für alles Merkwürdige im Dorf verantwortlich gemacht. Dass er sich letztlich selbst umbringt, nachdem er beschuldigt wurde, ein Mädchen vergewaltigt und im ganzen Dorf fluoreszierende Hakenkreuze an die Wände gemalt zu haben, bestürzt den Leser eher, als dass es ihn verwundert. Er gibt so den Kampf gegen seine Welt, die Jerichoer Dorfgemeinde, auf. Brandt beschreibt Augenblicke bis ins kleinste Detail, z. B. zählt er immer alle Dorfbewohner mit Namen bei den Veranstaltungen auf. Die Perspektivwechsel zu den einzelnen Personen sind spannend und variieren zwischen auktorialem und Ich-Erzähler. Auch optisch gibt es einige Besonderheiten, die der Leser entdecken kann. Es gibt Briefe von Stefan und das Kapitel, in dem Peter Peters vom Zug erfasst wird, ist zweigeteilt durch eine stilisierte Schiene in der Mitte der Seiten. Auf der oberen Seitenhälfte wird die Geschichte aus der Sicht von Daniel erzählt, in dem unteren Teil aus Sicht des Lockführers. Alles in allem ein großartiger Roman über Freundschaft, Rebellion und darüber, wie ein Kinderstreich eines Jungen das Leben seiner Familie und seiner Freunde auf tragische Weise verändert.
Ich finde, Du hast den Stil des Buches schon sehr ausführlich beschrieben. Was leider noch ausführlich war, ist der Inhalt – zu Beginn der Rezension war ich neugierig auf den Roman, nun habe ich allerdings das Gefühl, die gesamte Geschichte bereits zu kennen. Schade!
Hallo, vielen Dank für die Anregung. Ich kann dich beruhigen, meine Rezension gibt nichtmal einen Bruchteil der Figuren und der Handlung wieder, lediglich Daniels Lebensgeschichte ist grob skizziert. Viel Spaß beim Lesen, ein wirklich großartiges Buch 🙂