In Island tun sich „Abgründe“ auf

Ein Banker stürzt von einer Steilklippe in den Tod, ein Obdachloser rächt sich auf brutale Art und Weise an seinem Vergewaltiger, eine junge Frau wird halbtot in ihrer Wohnung aufgefunden. Mittendrin ein isländischer Kommissar, dessen Leben völlig trostlos daherkommt. Arnaldur Indriðason liefert in seinem neuen Roman viele seichte Handlungsstränge, ziemlich nah am Abgrund.

von CHRISTINA FROMMERT

Island 2005, die Wirtschaft boomt  ̶  die Mordrate ebenfalls, zumindest in Reykjavík, Islands Hauptstadt. Dort lebt und arbeitet Kommissar Sigurður Óli. Nach der Trennung von seiner Freundin widmet er sich voll und ganz der Arbeit. Deshalb ist er sofort zur Stelle als ihn ein früherer Schulkamerad bittet, ihm in einem Erpressungsfall zu helfen, in den seine Schwägerin und deren Mann verwickelt sind. Sie werden von Lina und Ebeneser, einem hochverschuldeten Ehepaar, mit brisanten Sex-Fotos erpresst. Als Sigurður die beiden zur Rede stellen will, findet er Lina halbtotgeprügelt in ihrer Wohnung auf. Sie erliegt wenig später ihren schweren Verletzungen im Krankenhaus. Der Mörder ist schnell gefunden, doch das Motiv bleibt zunächst unklar. Auf der Suche danach lässt Indriðason seinen Protagonisten auf einen weiteren mysteriösen Vorfall stoßen, der sich ein halbes Jahr zuvor ereignet hat und bis heute ungeklärt ist. Der Banker Portfinnur stürzte bei einem Betriebsausflug mit Kollegen von einer Steilklippe und starb. Die drei Kollegen sind sich einig, dass es ein Unfall war, nicht so Sigurður Óli. Er beginnt auch dieser Sache nachzugehen und deckt nach und nach dubiose Finanzgeschäfte auf, in die alle verwickelt sind. Es stellt sich heraus, dass Portfinnur aus diesen aussteigen wollte.

Scheinbar nebenbei kümmert sich Sigurður Óli auch noch um den Obdachlosen Andrés. Dieser steckt ihm eine alte Filmrolle zu, auf der deutlich zu erkennen ist, dass Andrés als Kind brutal von seinem Stiefvater vergewaltigt wurde. Andrés entführt den Stiefvater nachdem er ihn zufällig wiedersieht und plant eine brutale Rache. Mehrmals versucht er die Aufmerksamkeit des Kommissars auf sich zu ziehen, doch Sigurður ist so beschäftigt mit sich und den anderen Morden, dass ihm Andrés’ Kampf um Vergeltung mehr oder weniger entgeht. Allein der Leser erfährt durch immer wieder auftauchende Einschübe von Andrés’ Leiden und seinen Racheplänen, die er schließlich auch in die Tat umsetzt.

Arnaldur Indriðason beschreibt Andrés’ Vergangenheit und die daraus resultierenden Gefühle mit einer unglaublichen Präzision und Ehrlichkeit und entführt den Leser immer wieder in die tiefsten Abgründe der menschlichen Psyche. Man wird geradezu gepackt von der Ungerechtigkeit, die dem kleinen Jungen angetan wurde, und kann nicht verstehen, warum der arbeitswütige Kommissar hier nicht so beherzt eingreift wie in seinen anderen Fällen. Der Protagonist selbst bleibt ohne Gesicht. Zwar wird sein Seelenleben ähnlich offen gelegt wie das von Andrés’, indem seine gescheiterte Beziehung, das schlechte Verhältnis zu seiner Mutter und der Prostatakrebs seines Vaters skizziert werden, doch reagiert er darauf komplett emotionslos. Er bleibt eine leblose, gefühlskalte Person. Eine Person, für die man weder Sympathie aufbaut, noch Mitleid empfindet. Hier schafft es Indriðason nicht, eine Bindung zwischen Leser und Protagonist entstehen zu lassen.

Während der eigentlichen Handlung  tauchen, als wäre es noch nicht genug, immer wieder neue verzweigte Geschichten auf. Kleinkriminelle, an denen Selbstjustiz verübt wird und eine alte Dame, der man die Sonntagszeitung klaut. Sicherlich amüsante Anekdoten, aber während des Lesens immer wieder störend und zu stark vom eigentlichen Krimiplot ablenkend. Die Nebenhandlungen scheinen hier dazu da zu sein, Seiten zu füllen, denn sie entwickeln sich nur bis zu einem bestimmten Punkt und brechen dann ohne Auflösung ab. Besonders der Fall des Bankers, der ebenfalls offen bleibt, enttäuscht und scheint letztlich nur dazu zu nützen, den Finger gegen die bösen Banken und ihre korrupten Machenschaften zu heben. Sicherlich, dieses Thema ist brandaktuell und mag für eine gesteigerte Abnahme des Buches sorgen, sticht aber genau durch diese Offensichtlichkeit eher negativ heraus. Lediglich am Ende gewinnt der Krimi an Fahrt und Indriðason schafft es zu überraschen, als es Sigurður endlich gelingt (man hätte ihm zwischendurch gerne geholfen, damit es schneller geht), das Motiv für den Mord an Lina herauszufinden.

Ein Krimi, der sich schwer tut, ein solcher zu sein. Für alle Zweifler und Unentschlossenen ist das Genre zur Sicherheit auf dem Cover vermerkt.

Arnaldur Indriðason: Abgründe
Aus dem Isländischen von Coletta Bürling
Bastei Lübbe (Lübbe Hardcover), 432 Seiten
Preis: 19,99 Euro
ISBN 978-3785724194

Ein Gedanke zu „In Island tun sich „Abgründe“ auf

  1. Hey, ich bin mal so frech und poste mal was in deinen Blog. Sieht schoen aus! Ich beschaeftige mich auch seit kurzem mit WordPress steige aber noch nicht durch alle Funktionen durch. Deine Seite ist mir da immer eine gute Inspiration. Weiter so!

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