Ödipus und DDR-Vergangenheit

In ihrem neuen Roman Sturz der Tage in die Nacht nimmt Antje Rávic Strubel, deren vorangegangene Romane bereits mit zahlreichen Preisen wie dem Hermann-Hesse-Preis ausgezeichnet wurden, den Leser mit auf eine Reise auf eine Insel in Schweden und erzählt die Liebesgeschichte zwischen einem jungen Mann und einer sechzehn Jahre älteren Ornithologin und einem Geheimnis, das auf tragische Weise mit der Geschichte der beiden Protagonisten verknüpft ist. Enttäuschenderweise stürzen hier nicht nur die Tage in die Nacht und die von Inez beobachteten Vögel von den Klippen, auch die Lektüre hat wenig mit einem Höhenflug zu tun.

von LOUISA HACKMANN

Ein junger Mann auf einer Fähre, der auf eine Insel zurückblickt und eine Frau, die er dort kennengelernt hat und die nun am Horizont verschwindet. Eine Frau auf einer Insel, die der Fähre und dem jungen Mann hinterher schaut, den sie so gerne noch einmal sehen würde. Ausgehend von diesem Prolog beginnt der Roman, der in Rückblicken die Geschichte rekonstruiert, die sich zwischen Erik und Inez abgespielt hat, bevor er die Insel verlässt.

Erik, der nach zahlreichen abgebrochenen Studiengängen eine Auszeit braucht und durch Schweden reist, macht einen Tagesausflug nach Stora Karlsö. Auf dieser Insel, die ein Naturschutzgebiet ist, lernt er die kühle und distanzierte Vogelbeobachterin Inez kennen und verliebt sich in sie. Was als Tagesausflug geplant war, wird zu einem mehrmonatigen Aufenthalt inklusive Praktikum im Naturschutzmuseum. Nach und nach öffnet sich Inez Erik gegenüber und zwischen den beiden entwickelt sich eine Liebesbeziehung, deren übertrieben pathetische Beschreibung bereits zu Beginn die Vorahnung weckt, dass diese Liebe unter keinem guten Stern steht.

Denn Erik ist nicht allein auf die Insel gekommen. Mit ihm von Bord gegangen ist Rainer Feldberg, der Inez offensichtlich das Leben auf der Insel schwer machen will und Erik immer wieder über seine Beziehung zu der Ornithologin auszufragen versucht. Der Leser kann aus den Kommentaren Feldbergs erahnen, dass zwischen Inez und Feldberg eine Verbindung besteht, die in der DDR-Vergangenheit liegt. Verbindungspunkt der beiden scheint ein Interview mit dem fiktiven CDU-Abgeordneten Felix Ton zu sein, der im Zuge seines Wahlkampfs auf der Suche nach seinem Sohn ist, den seine damalige Freundin in der DDR zur Adoption freigegeben hat. Die Tatsache, dass Erik dieses Interview gerade unter Inez’ Unterlagen findet, lässt den Leser ahnen, wie die Figuren miteinander verknüpft sind. Doch spätestens mit folgendem Kommentar Feldbergs wird klar, was der Leser insgeheim schon ahnt: „Er ist fünfundzwanzig, Inez. Das sind genau sechzehn Jahre. Ist dir das noch nicht aufgefallen?“

Je stärker dem Leser die offensichtliche Tatsache ins Auge springt und ihm auf einem Silbertablett serviert wird, ohne auch nur einen Funken Spannung übrig zu lassen, desto unrealistischer und überspitzter erscheint es, dass die Protagonisten bis zum Ende nicht zu ahnen scheinen, was für den Leser so offensichtlich ist: eine Mutter und ihr zur Adoption freigegebener Sohn verlieben sich und beginnen eine Beziehung. Der Ödipus-Mythos vor dem Hintergrund der DDR- und Stasi-Vergangenheit sozusagen.

Doch nicht nur das späte Erkennen der wahren Verwandtschaftsbeziehungen erscheint übertrieben und künstlich herausgezögert, auch die Tatsache, dass ein junger Mann, der eine Auszeit sucht, rein zufällig einen Tagesausflug auf die Insel macht, auf der seine leibliche Mutter arbeitet und diese dann auch noch besser kennenlernt, entbehrt jeglichen Realitätsbezugs.

Die erschreckende Vergangenheit und die Hintergründe, die zu Inez’ Entscheidung führten, ihren Sohn zur Adoption freizugeben, bleiben nebensächlich und werden übertüncht von pathetischen Beschreibungen und einer überspitzten Geschichte, die dem Leser das Ganze streckenweise wie einen Groschenroman erscheinen lässt. Den Leser beschäftigt nach der Lektüre letztlich nicht die Frage, was die DDR-Vergangenheit und die Vermittlung von Adoptivkindern über die Stasi heute für uns zu bedeuten hat und welche Konsequenzen daraus zu ziehen sind, sondern fragt sich stattdessen, ob er nicht besser zu einem Werk über Ödipus und einem Sachbuch über die  DDR-Vergangenheit hätte greifen können, anstatt seine Zeit mit diesem Buch zu verschwenden.

Antje Rávic Strubel: Sturz der Tage in die Nacht
S. Fischer Verlag, 448 Seiten
Preis: 19,95 Euro
ISBN: 978-3-10-075136-2

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