„Es gibt, Dinge die können gleich erzählt werden, und manche sind unsagbar.“, so heißt es im Debütroman von Daniela Krien. Doch die Leipziger Autorin widerlegt sich selbst: „Irgendwann werden wir uns alles erzählen“ (Graf Verlag) wartet und zögert nicht, sondern erzählt geradeheraus die Geschichte zwischen Marie und dem Henner, bei der vieles verschwiegen und dennoch alles erzählt wird. Kriens Erstlingswerk kreist um die Liebe im Verborgenen, das große Schweigen, und das auf eine Weise, wie wir es lange nicht mehr gelesen haben: Aufrichtiges Erzählen von aufrichtigen Gefühlen.
von LARA KIRFEL
Es ist Sommer 1990 in einem kleinen Dorf nahe der deutsch-deutschen Grenze, die bald keine mehr sein wird. Es ist eine Zeit des Umbruchs, und doch ist das kleine DDR-Bauerndorf zunächst einmal nur mit der nächstliegenden Wende beschäftigt: der Heuwende. Die 16-jährige Maria lebt bei ihrem Freund Johannes und dessen Familie auf dem Brendel-Hof. Gesprochen wird dort wenig, dafür müssen alle mit anpacken: die ruppige Oma Frieda, der strenge Vater Siegfried, Mutter Marianne, der verschrobene Albert und eben die Kinder. Es ist ein einfacher Alltag, und während Johannes von einem Leben in der Stadt träumt, entzieht sich Maria der dörflichen Enge nur zu gerne mit den „Brüdern Karamasow“.
Nicht nur, dass Krien ihre Geschichte ins provinzielle Hinterland einer schwindenden DDR versetzt, auch ihre Sprache wirkt auf den ersten Blick: Unzeitgemäß, gestrig. Mit einfachen, kernleibigen Sätzen werden das Treiben auf dem Hof, der Brotlaib auf dem Küchentisch, der Weizen auf den Feldern und auch Marias zarte Zuneigung zu Johannes beschrieben, dass man sich zeitweise fragen muss, ob das nun naiv oder schon einfältig daherkommt. Doch aus Kriens rustikalem Sprach-Pragmatismus schält sich eine schlichte Schönheit, die postmodernen Lesegewohnheiten eine sinnliche, archaische Direktheit entgegensetzt. Und sich schon fast vergessenen Beweggründen des Erzählens wieder annähert: großen Leidenschaften.
Denn unweit vom Brendel-Hof wohnt „der Henner“, ein Mann in den Mittvierzigern, der, von den Härten des DDR-Regimes gebrochen, nun ein Eremiten-Dasein zwischen Suff und Hofarbeit fristet. Seine Isolation macht ihn so sonderbar wie spannend, und als er Maria eines Tages kurz am Arm berührt, wird sie, die sich so gern in die Welt der Karamasows träumt, von einer hingebungsvollen Leidenschaft ergriffen: „Mach mit mir was du willst“, so flüstert sie dem Henner ins Ohr, und der nimmt sich was er will – eine bedingungslose, körperliche Obsession entsteht, die die beiden fortan im Geheimen führen. Und während die Brendels Maria immer mehr in das bäuerliche Familienleben integrieren, verliert sich Maria in ihrer Liebe zum Henner, die so ungestüm wie schmerzhaft, so ehrlich wie triebhaft ist. Schließlich steht der Tag der deutschen Wiedervereinigung bevor und Maria beschließt, alles zu offen zu legen. Aber dazu wird es nicht kommen, doch irgendwann, so sagt es schon Alexej Karamasow, wird es sie geben, die Zeit, in der alles erzählt werden kann.
Irgendwann werden wir uns alles erzählen erzählt freimütig und unbedarft. Der Roman beschreibt den frisch gebackenen Hefezopf, den Löffel Butterreinfett, das familiäre Schweigen beim Abendessen. Und die Liebe, wie sie eben ist: aufrichtig, eindeutig, bedingungslos. Das kann man reaktionär finden, und vielleicht ist es das auch. Aber Krien benennt die Dinge wie sie sind, und das ist irgendwie zu einfach und gerade deshalb so eindrucksvoll. Der alte Brendel-Hof soll umgebaut werden, die Grenzen stehen offen, Johannes will Fotografie studieren und Maria liebt den Henner. Kriens Roman handelt von Zeiten des Umbruchs, im Großen wie im Kleinen, „unmodern“ geschrieben und gerade deswegen ein neues Leseerlebnis – Eine Geschichte über das Nicht-Erzählen, die selbst alles erzählen kann.