Nino Haratischwili stellt in ihrem neuen Roman Mein sanfter Zwilling nicht nur eine weitere Version der sogenannten „Patchwork-Lüge“ vor, sondern auch die schmerzvolle Abhängigkeit zweier Menschen.
von ESRA CANPALAT
Zwei Werke sind es, die während des Lesens als Referenzpunkte für Nino Haratischwilis Geschichte erscheinen: Zum einen Melanie Mühls Die Patchwork-Lüge, zum anderen Gitta Lehrs Die Lewins.
Zunächst geht es um das Thema Patchwork-Familie, ein Thema, das vor allem durch Mühls Streitschrift kritisch unter die Lupe genommen wurde. Die Patchwork-Familie, die sich im Laufe der Jahre (vor allem maßgeblich infolge der 60er Jahre) in der Gesellschaft als durchführbares Familienkonzept etabliert hat, wird von Mühl als der Grund für die mangelnde Verlässlichkeit und das Fehlen von festen Bindungen in Familienstrukturen diagnostiziert. Genau dieses Symptom lässt sich bei der Familie der Protagonistin Stella feststellen.
Stellas Verwandtschaft besteht aus einem bunten Haufen von Menschen, von denen keiner eine feste Position innerhalb der Familie einnehmen kann. Wenn sie anderen von ihrer Familie erzählt, so muss sie ständig ein „eigentlich“ in ihre Erzählung einschieben. Denn eigentlich ist ihre Großmutter Tulja nicht die Mutter ihres Vaters, sondern seine Tante, und eigentlich ist Ivo auch nicht ihr richtiger Bruder, sondern ihr adoptierter Halbbruder. Dieses Fehlen von genau definierten Fixpunkten in ihrer Familie ist es, die Stella in eine Identitätskrise stürzt. Auch der Versuch, in ihrer eigenen, scheinbar intakten Ehe eine Lösung für ihren Ich-Verlust zu suchen, scheitert: „Ich suche mich vergeblich im Gesicht meines Sohnes. Ich suche mich vergeblich im Gesicht meines Vaters. Ich suche mich vergeblich im Gesicht meines Mannes.“ So wird man beim Lesen der Episode, in der Stellas Sohn durch das Dekorieren mit Möhren versucht, das Haus wohnlicher wirken zu lassen, sehr stark an ein Vanitas-Stillleben erinnert: Neben den satten, frischen Früchten im Obstkorb vergammelt die Möhre, der Rettungsanker für die zerbrechende Familie. Als omnipräsentes Zeichen schwebt das Bild der vergammelnden Möhre über jedes Geschehen in Stellas Leben.
Der Identitätsverlust Stellas hängt hierbei aber mit einem entscheidenden Faktor zusammen: Sie kann sich nur über einen anderen Menschen definieren, und dieser andere Mensch ist Ivo. Immer wieder stößt sie auf der Suche nach sich selbst mit Ivo zusammen, mit dem sie nicht nur eine gemeinsame Kindheit, sondern auch eine schreckliche Erinnerung teilt. Doch vom Zusammenstoßen der beiden Geschwister kann hier nicht wirklich die Rede sein: Es ist ein explosives Zusammenprallen, ein gleichzeitiges Gefühl von Geborgenheit und Schmerz. Trotz der Gewissheit, dass sie ohne einander nicht leben können, müssen beide stets getrennter Wege gehen. Denn die Liebe zwischen Stella und Ivo ist zwar sanft, aber auch selbstzerstörerisch. Hiermit kommt man zu der zweiten möglichen Referenz Haratischwilis, nämlich Gitta Lehrs Die Lewins. Auch dieser Roman handelt von einer merkwürdigen, zusammengewürfelten Familie und von der Abhängigkeit zweier Menschen. Auch die Protagonisten Wanda und Leander, Zwillinge und Inzestpärchen zugleich, können und wollen nicht ohne den anderen, auch wenn sie immer wieder von Neuem versuchen getrennte Wege zu gehen. So ist Ivo eben Stellas sanfter Zwilling. Jede Bewegung, jedes Gefühl spiegelt sich im Anderen wieder. Ein Ich, somit ein Leben, ist ohne diesen Zwilling einfach nicht möglich.
All das erscheint während des Lesens dieses dramatischen Romans irgendwie plausibel, aber ungeklärt bleibt, warum die Verbindung zwischen Stella und Ivo nicht sein darf, obwohl sie sein muss. Denn anders als bei dem wortwörtlichen Zwillingspaar Leander und Wanda, ist hier keine Inzestproblematik zu erkennen. Zeitweise möchte man am liebsten Stella an den Schultern packen, sie schütteln und fragen: Wo ist denn jetzt eigentlich hier das Problem? Ivo könnte diese feste Bezugsperson in Stellas Leben sein. Doch jedes Mal, wenn beide sich zu nah kommen, folgt eine Katastrophe. Der Roman weist geradezu eine zyklische Struktur auf, die manchmal einfach sehr anstrengend ist: Immer wieder wiederholt sich die Situation, dass Stella Ivo ausweicht, letztlich doch nicht wieder von ihm lassen kann und sich und andere damit verletzt.
Das Problem liegt in der Vergangenheit, jedoch will keiner dieses schreckliche Ereignis wiedergeben, das Ivo und Stella verbindet. So brechen die Figuren ständig ihre Rede ab, wenn es um dieses Thema geht. Diese ständigen Aposiopesen wirken übertrieben und nicht authentisch: Es ist, als würde der Leser wie bei einer Daily-Soap mit Cliffhangern bei der Stange gehalten, damit er auch ja weiterliest und auf die Spur dieses Familiengeheimnisses kommt. Als Stella während ihres Aufenthalts in Georgien endlich wieder bereit ist, sich an diese Tragödie zu erinnern und gleichzeitig das Vergangene zu verarbeiten, scheint alles geklärt. Oder auch nicht. Denn die Aufdeckung der Tragödie, die in Verbindung gebracht wird mit dem ähnlichen Schicksal einer Familie in Georgien, ist zwar stimmig, aber nicht sinnvoll. Die Zusammenhänge und Vergleichspunkte zwischen Stellas Familie und der georgischen Familie sind einerseits nachvollziehbar, wirken aber andererseits sehr künstlich und weit hergeholt.
Nino Haratischwilis Roman ist denjenigen zu empfehlen, die gerne komplexe Familiengeschichten lesen und die außerdem Wert auf einen poetischen und zugleich geschliffenen Sprachstil legen, welchen die Autorin durchaus zu beherrschen weiß. Das aktuelle Thema Patchwork-Familie wird hier zugegebener Maßen bewegend und hinterfragend dargestellt. Auch das traurige Schicksal Stellas und Ivos, das selbstzerstörerische Verhalten beider Liebenden, lässt den Leser nicht unberührt. Doch die positiven Eindrücke werden getrübt durch das übertriebene Pathos, überzogene Symbole und das sehr inszeniert wirkenden Ende.
Beim Lesen Deiner Rezension hat sich mir die Frage gestellt, ob Haratischwili selbst die Verknüpfung zu den Werken Mühls und Lehrs zieht oder ob diese Verknüpfung Dein Einfall war. Falls es Ersteres ist: wie macht er das? Du hast außerdem gesagt, dass die Beziehung zwischen Stella und Ivo eigentlich nicht inzestuös ist. Wenn die beiden aber, wie Du im vierten Absatz schreibst, Halbgeschwister sind, dann ist ihr Problem der “Geschwisterliebe” doch verständlich, oder?
Ich habe die Verknüpfung zwischen dem Roman und dem Werk von Mühl und Lehr gezogen, weil ich persönlich fand, dass da Vergleichspunkte vorhanden sind. Vor allem die Aktualität des Themas Patchworkfamilie spiegelt sich meiner Meinung nach in dem Roman wider, weshalb ich den Bezug zu Mühls aktuellen Streitschrift gezogen habe.
Zur Inzestthematik: Ivo und Stella werden in dem Buch als Halbgeschwister bezeichnet, sind aber nicht verwandt. Stellas Vater hatte zwar mit Ivos Mutter ein Verhältnis, aber Stellas Vater ist nicht der leibliche Vater von Ivo. Das heißt, dass Ivos Mutter noch verheiratet war, während sie eine Affäre mit Stellas Vater hatte. Ivo wird im Laufe des Romans von Stellas Familie adoptiert. Weshalb die Adoption stattfand, will ich an dieser Stelle nicht sagen, weil ich sonst das Ende des Romans verraten würde. Vielleicht möchtest du ihn ja mal lesen 🙂
De facto sind Ivo und Stella biologisch nicht miteinander verwandt!