Wie ein Friseur die französische Revolution ins Rollen brachte

Mann, getrieben von unbändigem Ehrgeiz, ausgestattet mit unerschütterlichem Selbstbewusstsein und nicht zuletzt gestraft mit ungeheuerlichem Realitätsverlust. Ein Mann, der untrennbar mit der französischen Revolution verbunden ist: Jean-Jacques Rousseau. Doch sein Schicksal wäre anders verlaufen, wenn Wintzenried nicht gewesen wäre. Der neue gleichnamige Roman Wintzenried von Karl-Heinz Ott erzählt das Leben des Rousseau auf unterhaltsame Art und Weise.

von JENNIFER RINSCHE

„Meine Geburt war mein erstes Unglück“ behauptet das Zitat Rousseaus am Anfang des Romans. Dieses Zitat, und die damit verbundene Schlussfolgerung, dass Jean-Jacques Leben scheinbar unter keinem guten Stern stand, zieht sich durch den ganzen Roman. Zeit seines Lebens fühlte er sich unverstanden und unterschätzt. Seine Genialität wurde nicht anerkannt und alle anderen Gelehrten und Intellektuellen waren seiner Meinung nach Stümper, die niemals auch nur in die Nähe der Wahrheit über die Dinge kommen würden.

Direkt im ersten Kapitel wird klar, dass Rousseaus Pflegemutter zunächst den Mittelpunkt seines Lebens darstellt. Sie führen eine merkwürdige sexuelle Beziehung, die nicht im Geschlechtsakt gipfelt, denn das möchte er nicht. Ihm wäre es am liebsten, sein ganzes Leben bei seiner „Mama“ zu verbringen, doch als der Friseur Wintzenried auftaucht, ist nichts mehr so wie vorher.

Seine „Mama“ hat ihn durch einen jüngeren Gespielen ersetzt, nachdem Rousseau für einige Zeit in Lyon und Paris war, um Komponist zu werden. Ab diesem Zeitpunkt wird klar, dass Rousseau bis aufs äußerste gekränkt ist und fortan alles versucht, um sein gebrochenes Ego zu reparieren und um Ruhm und Anerkennung zu erlangen. Da er als Komponist ausgebildet wurde, beschäftigt er sich eingehend mit der Verbesserung des vorhandenen Notensystems und entwickelt ein Zahlensystem, das seiner Meinung nach die Welt der Musik revolutionieren würde. Er stellt das System Rameau vor, doch dieser sieht den Nutzen darin nicht, da es für ihn keine Vereinfachung darstellt. Rousseau versteht die Welt nicht mehr und ist irritiert, dass man ihm seinen Erfolg nicht anerkennt. Er hält Rameau für ma゚los eifersüchtig und sieht sich in seiner Genialität bestätigt. Von da an ist Rousseau ein arroganter und realitätsferner Mensch, der sich selbst für den Genialsten  unter der Sonne hält. Alle anderen sind seiner Meinung nach zu nichts zu gebrauchen, da sie nur eifersüchtig auf ihn, den großartigen und genialen Jean-Jacques Rousseau sind.

Mit seinem Freundeskreis, zu dem Diderot, d’Alembert und Grimm gehören, diskutiert er über Philosophie, Pädagogik und Politik. Er fühlt sich jedoch zunehmend fehl am Platz, belächelt und abermals unverstanden. Trotzdem sieht er sich durch diese scheinbare Ablehnung bestätigt in seinem Tun und bewertet die meisten Situationen jedoch völlig falsch und stellt fest, dass alle anderen niemals auch nur annähernd so klar und genial denken können wie er.

Der Titel Wintzenried ist ein wenig irreführend, denn eigentlich erwartet der Leser mehr Informationen zu dem Mann, der Rousseau aus dem Haus getrieben hat. Dieser wird nur am Rande erwähnt und findet im Lauf der Erzählung keine weitere Beachtung. So dient Wintzenried der Friseur als der Beginn der Karriere des Protagonisten. Der Leser lernt einen Jean-Jacques Rousseau kennen, wie er ihn vorher nicht kannte. Dabei sind alle wichtigen Stationen seines Lebens und Schaffens aus der realen Biographie Rousseaus übernommen worden. Der Ton dieses Romans ist ironisch und an manchen Stellen weiß der Leser nicht, ob er lachen oder weinen soll. Diese Ambivalenz resultiert aus der grotesken Art und Weise, wie Jean-Jacques reagiert und sich die Welt erklärt und deswegen möchte man ihn an einigen Stellen einfach nur schütteln und fragen: „Was zum Teufel ist eigentlich los mit Ihnen?“ Nichtsdestotrotz hat sich beim Lesen keine Frustration eingestellt, sondern eine heitere Grundstimmung, denn trotz – oder gerade wegen – der ganzen Unglücke, die über den Protagonisten einbrechen, kann der Leser immer wieder schmunzeln und sich amüsieren. Der Mann, der hier beschrieben wird, hat vielleicht nicht viel mit dem „echten“ Rousseau gemein, aber durch die Skizzierung seines Lebenswerks erhält man einen Eindruck über das Leben eines großen Mannes, der seiner Zeit schon polarisiert hat.

Ein Vergnügen für Leser, die mit einem guten Grundwissen über Jean-Jacques Rousseau sicher Freude daran finden und für Leser, die nicht viel über Rousseau wissen, sich dennoch über einen merkwürdigen, paranoiden Menschen amüsieren können, der Schwierigkeiten hat, in der Welt seinen Platz zu finden.

Karl-Heinz Ott: Witzenriet
Hoffmann und Campe: 205 Seiten
Preis: 18,99 Euro
ISBN: 978-3455403114

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