Die Witwenschaft der Joyce Carol Oates

„Witwe ist jemand, der festgestellt hat, dass es keine Alternative gibt.“

Meine Zeit der Trauer ist der erste autobiographische Roman von Joyce Carol Oates, doch sie erzählt darin nicht ihr Leben, wie es anfing und sich daraufhin entwickelte. Vielmehr ist es eine reiche Sammlung an Erlebnissen und Eindrücken aus einer Welt, die ihr lange Zeit unbekannt war: die der Witwe. Zugleich sind es Erinnerungen an jenen Kosmos, der sich Ehe nennt und der sich mit dem Tod ihres Mannes für sie schlagartig in Luft aufgelöst hat.

Von SILVANA MAMMONE

Der Roman beginnt mit der Einweisung ihres an einer Lungeninfektion erkrankten Mannes ins Krankenhaus. Mit einem verwunderten und zugleich stark observierenden Blick, den sie auf diesen letzten und sehr kurzen gemeinsamen Zeitabschnitt mit ihrem Mann hat, beschreibt Oates das Ende ihres Lebens mit Ray; die langen Tage und Nächte am Krankenbett, die ständige Angst um ihren Mann und die Hoffnung, an der sie sich bis zu seinem plötzlichen Tod festklammert. Sehr einfühlsam und detailverliebt erzählt Oates danach von ihrem Leben nach dem Tod ihres Ehemanns, wobei jede Erinnerung so genau beschrieben ist, als hätte sich ihr jede Sekunde genau so in den Kopf gebrannt. So wirkt der Roman wie ein Mosaik aus hunderten kleinen und mehr oder weniger bedeutenden Stücken dieser sehr eindringlichen Zeit.

Obwohl sie zeitlich chronologisch vorgeht, wirkt ihre Erzählweise teilweise sprunghaft, als erzählte sie wahllos ein Sammelsurium an Dingen, die sich ihr eingeprägt haben und die sie bis heute beschäftigen. Dabei resultiert diese Sprunghaftigkeit vor allem daraus, dass Oates häufig verschiedene Blickwinkel einnimmt, denn die einzelnen Fragmente und Kapitel bewegen sich auf unterschiedlichen erzählerischen Ebenen. In erster Linie ist der Roman eine intensive Reflexion über alles, was mit der Lücke, die der Tod ihres Mannes hinterlassen hat, in Verbindung steht: die Trauer und deren Verarbeitung, ihre vergangene Beziehung, die Schuldgefühle, die sie plagen. Dabei erlebt sie ganz spezifische Momente noch einmal, sie begibt sich erneut in entscheidende und unvergessene Augenblicke, wobei damit der tendenziell distanzierte Blick auf die Vergangenheit aufgehoben wird. Ganze Sammlungen an verschickten und empfangenen E-Mails, die gesamte Kapitel füllen, liefern direkte Einblicke in ihr Leben nach Rays Tod. Als setzte man sich als Leser selbst an den Schreibtisch und würde überladen mit Nachrichten von Freunden und Arbeitskollegen, welche im ersten Moment nichts anderes tun, als scheinbar sinnlos und unerreichbar im Raum zu stehen. Oder als stünde man selbst vor der vollkommen überfordernden Aufgabe, die eigene Lage in Worte zu fassen. Dadurch versucht Oates inhaltlich sowie sprachlich sehr eindringlich, eine gewisse Nähe zu ihren persönlichen Erfahrungen und Eindrücken aus dieser Zeit aufzubauen.

Zudem eröffnet sie etwas, das man fast einen Diskurs der Witwenschaft nennen könnte. Was bedeutet es, Witwe zu sein? Wie hat man sich zu verhalten? Und wie findet man oder die Autorin selbst sich in solch eine außergewöhnliche Situation, wie die der Witwe, ein? Diese und weitere Fragen versucht sie zu beantworten, wie es scheint, vor allem auch für sich selbst.

Was zudem einen tiefen Eindruck hinterlässt, ist eine teilweise sehr bildhafte Sprache, mit der Oates viele Dinge auszudrücken vermag, die für den Leser sonst im Verborgenen bleiben würden. So birgt der Roman vor allem einen außergewöhnlich tiefen Einblick in das Innerste der Autorin und beschreibt auf sehr persönliche Art und Weise die langwierige Verarbeitung einer allumfassenden und niederdrückenden Trauer.

„Von den zahllosen Pflichten, die die Witwe dem Tod gegenüber hat, ist im Grunde nur eine von Belang: am ersten Todestag ihres Mannes sollte die Witwe denken: Ich lebe noch.

 

Joyce Carol Oates: Meine Zeit der Trauer
S. Fischer, 496 Seiten
Preis: 24,95 Euro
ISBN: 978-3100540096

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