Zu viel ist viel zu wenig

Milieuschilderung, road novel, Romanze und Kriminalgeschichte. In seinem aktuellen Roman Ruß flößt Feridun Zaimoglu dem Ruhrgebiet Leben ein – und fährt es in Österreich vor die Wand.

Von JONAS PODLECKI

Entwicklung ist ein unaufhaltsamer Prozess, der das Alte vernichtet, um das Neue zu schaffen. Das Veraltete löst sich jedoch nicht einfach in Luft auf. Es besteht weiterhin neben dem Aufblühenden, bis es schließlich generalüberholt in Kultur und Erinnerung übergeht. Das Überflüssige wird ersetzt, das Traditionelle renoviert, das Erhaltenswerte restauriert. Das Ruhrgebiet befindet sich in einer solchen Umbruchphase, in einem Wandel von einer Industrie- zu einer Dienstleistungsgesellschaft. In seinem neuen Roman ist dieser Wandel spürbar, ein differenziertes Bild dieser Übergangsgesellschaft bleibt Feridun Zaimoglu dem Leser aber schuldig. Leider.

Seit dem Tod seiner Frau fristet der ehemalige Arzt Renz ein tristes Dasein in Duisburg. Jeden Morgen steht er früh auf und zeichnet Bilder von Heiligen, während er sich die Asche seiner Frau auf der Zunge zergehen lässt. Im Kiosk, den er gemeinsam mit seinem Schwiegervater führt, trifft er frühmorgens die ersten Freunde, die über Alltäglichkeiten plaudern und sich den ersten Schluck des Tages genehmigen. Bei einem Bummel durch Essen und Duisburg trifft er Karl, den Handlanger eines alten Bekannten namens Heinrich. Renz erfährt, dass der Mörder seiner Frau bald freikommt. Wenn er sich eine Weile um Heinrichs psychisch labilen Halbbruder Josef kümmert, erledigt er den Mörder seiner Frau. In Warschau beginnt der Spaß mit dem brutalen Karl und dem psychopathischen Josef, ein Spaß, der Renz durch Warschau und das Ruhrgebiet schließlich nach Österreich zum Mörder seiner Frau führt …

In seinem Roman versucht Zaimoglu, verschiedene literarische Genres miteinander zu vereinen. Die Rahmenhandlung ist eine Kriminalgeschichte: Die Suche nach dem Mörder, die Aufklärung des Mordes und schließlich die Hinrichtung des Täters. Darin eingebettet sind road novel (Warschau, Ruhrgebiet, Österreich), Milieuschilderung (Ruhrgebiet) und Liebesgeschichte (Renz und Marja). Dies unter einen Hut zu bringen unter gleichzeitiger Wahrung einer gewissen Qualität, ist ein literarisches Vabanquespiel. Zaimoglu scheitert am Umfang. Auf 262 Seiten lässt sich ein komplexes Vorhaben wie dieses nicht bewerkstelligen. Dies lässt sich an seinem Erzählstil festmachen:

»Biersäufer. Besoffene Bierflaschensammler. Flüsternde. Floskeln Zischende. Leise Fürbitten Sprechende. Tüten Schwenkende. Kleine Arbeiter, die nach Feierabend den Kopf verkochten. Möpse an der Leine, zwei Möpse, die wie Schlittenhunde an der Leine zerrten. Frauen mit praktischem Wissen – der kleine Jutesack steckte im großen, die Träger hielten das schwere Gewicht. Stark geschminkte Mädchenfrauen, das Wangenrouge zog sich hoch bis zu den Schläfen. Mädchengleiche Frauen, die nie lächelten, weil sie alles zum Lachen fanden. Die Begaffer der Dinge. Die Dinge Beglotzende. Betäubte, Fast-Verrückte. Von leichtem Wind Beflügelte. Aufbrausende. Aufmuckende. Mucker mit wenig Haar auf dem Kopf. Itaker, das Gesicht flach, Itaker, laut und spöttisch. Spötter, denen der Geist und die Seele aus den Achseln herausschwitzten.« (Kiwi 2011, S. 95)

Nun ist dies keine schlechte Beschreibung der Situation. Renz geht durch die Innenstadt Duisburgs, ihm entgegen kommt eine hetzende Menschenmenge. Der Leser liest, was und wie er diese Szene wahrnimmt. Zaimoglu macht sich die Mühe, die Beschreibung auf vier Seiten auszudehnen. Dies wäre ein idealer Ausgangspunkt für eine detaillierte Milieuschilderung. Doch es bleibt bei diesen winzigen Schnipseln. Bei einer Momentaufnahme wie dieser ist dies zu verschmerzen. Das Schlimme jedoch ist: Zaimoglu beschreibt auch Figurengedanken in diesem erzählerischen Stichwortstil: »Der Plan war kein Plan. Sie blieben stecken. Er blieb stecken. Zu viel Zeit. Er fuhr ins Städtchen, nach Salzburg: eine hassenswerte Stadt. Brücke, Fluss, Burg. Verdammte Japaner – sie knipsten. Verdammte Amerikaner – sie sprachen laut, immer und überall. Die Männer dazu verdammt, den Frauen zu gefallen. Renz probierte zum ersten Mal eine Mozartkugel. Spuckte aus. Hort der übelsten Österreicher – das war hier. Verblendete pfützenäugige Reiche. Verrottete Seelen: Sie gaukelten Lust, Appetit, Freude vor. Sollten die Kessel der Hölle überquellen, sollte der Schwefel niedergehen auf diese Stadt. Heftige böse Gedanken, Renz ließ sie zu.« (S. 228) Zaimoglu lässt sich selten die Zeit, auf etwas ausführlicher einzugehen. Er erwähnt etwas, verwirft es und gibt es damit der Bedeutungslosigkeit preis. Das ist keine Verknappung, die psychologische Tiefe in sich birgt. Das ist abgehacktes Erzählen. Das ist einfach Überflüssigkeit.

Marja ist das Liebesobjekt von Renz. Sie ist Kellnerin und Nageldesignerin. Als Renz vorübergehend genug von Karl und Josef hat, flüchtet er zu Marja. Weil er noch nicht über seine Frau hinweg ist, hat er Bindungsängste. Sie manifestieren sich in einem steten Hin und Her in der Beziehung. Manche Augenblicke sind gelungen, doch die meisten wirken trivial, fast idiotisch.

»Ich hatte die Augen geschlossen und wollte schlafen. Dann hab ich gedacht: Da liegt ein halb nackter Mann bei dir im Bett, und du willst schlafen.

Ich will, dass wir uns lieben, sagte Renz.

Warte ein bisschen.

Ja.

Wir rauchen erst zu Ende. Wenn wir miteinander schlafen, verliebe ich mich in dich.« (S. 178)

Manchmal wirken ihre Gespräche pubertär:

»Du bist ein grober Mensch, sagte er, du verdirbst mir immer die Laune.

Hab dich doch nicht beleidigt.

Doch, hast du. Du benimmst dich schlecht.

Das sagt der Richtige.

Du hältst mich für bekloppt, gut. Aber was stimmt nicht mit dir?

Ich bin normal, sagte Marja.

Nein, bist du nicht.

Ach ja?

Du drehst durch, wenn man dir hilft, sagte Renz, so wird das nichts mit unserer Liebesgeschichte.« (S. 241-242)

Ihre Liebe ist ehrlich, ihr Verhalten aber unaufrichtig. Was sie verbindet, ist die Trauer über einen Verstorbenen. Marja hat ihren Vater verloren, seine alte Wohnung möchte sie nicht aufgeben. Der Verlust eines geliebten Menschen schweißt Renz und Marja zusammen. Zugleich verhindert er, dass sie zusammenkommen können. Sie sind unfähig, über den Schatten eines Verstorbenen zu springen. Auf Dauer wirkt es träge. Eine Auflösung dieser Liebesgeschichte gibt der Roman nicht. Das Ende bleibt offen.

Die Sympathieträger des Romans sind vier eingefleischte Ruhrgebietler, die Renz helfen, seine Probleme mit einem bewaffneten Brutalo (Karl) und einem gewalttätigen Psychopathen (Josef) zu lösen. Seine vier Freunde heißen Eckart (Schwiegervater), Kallu, Hansgerd und »Norbert mit der Plastikhand«. Sie verleihen der Handlung Witz und Charme, überschreiten jedoch nicht die Grenzen ihrer klischeehaften Schablonierung. Ihre Gespräche sind amüsant, gleichzeitig auch trivial.

»Im Keller hab ich Ratten. Die machen sich über alles her, dem Nachbarn haben sie sogar die Jutesäcke zerfressen. Da musst du dir was einfallen lassen, hab ich ihm gesagt, kannst ja nicht mitm Pumpgewehr im Kabäuschen wachen wien Soldat und das Viech abballern. Gibt ja Riesensauerei. Wollt der aber, der Nachbar, der is doof wie ne Karre Asche. Ich hab gedacht, wenn der Tortenarsch im Keller schießen tut, sind meine Flaschen in Gefahr. Ein Querschläger, und ich zieh die Arschkarte. Seine Kellerzelle ist gleich neben meiner. Ich also nach unten, schlepp drei Kisten auf einmal zu mir hoch auffen Balkon. Und was glaubst du, was passiert ist?

Kein Schimmer, sagte Renz.

Na rate mal.

Bist ausgerutscht, runtergefallen und unten vorm Haus aufgeschlagen.

Hör mal auf jetzt, sagte Kallu, die Flaschen, alle kaputt, wegen Frost zerplatzt.« (S. 13-14)

Feridun Zaimoglu hat ein unglaubliches Beschreibungs- und Wortschöpfungstalent (»versonntagter Samstag«). Manchmal gelingen ihm prägnante Sätze: »Die einfachen Leute hatte man verbannt, ihnen unwürdiges Zeugs angedreht als neue Wahrzeichen der Stadt.« (S. 104-105) Man merkt, dass er sich auseinandergesetzt hat mit der Geschichte des Ruhrgebiets, das er intensiv recherchiert hat, um der Region Leben einzuflößen. Doch all das lässt er fallen zugunsten einer unausgegorenen Romanze und einer oberflächlichen Kriminalgeschichte, die irgendwo in Österreich abrupt versiegt.

Ruß ist ein Roman, der vieles anbietet, aber wenig gibt, ein Roman, verfasst in einem überhasteten, abgehackten Stil, der den beschriebenen Dingen nicht gerecht wird. Feridun Zaimoglu hat sein Talent in Trivialität aufgelöst und ein literarisches Produkt geliefert, das dem Anspruch einer »deutschen Sage«, wie es im Klappentext heißt, in keiner Weise entspricht. Für die Zukunft wäre weniger Breite und mehr Tiefe empfehlens- und wünschenswert.

Feridun Zaimoglu: Ruß
Kiepenheuer & Witsch, 266 Seiten
Preis: 18,99 Euro
ISBN: 978-3462043297

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