Im Alter von 71 Jahren schreibt Hugues de Montalembert seine Lebensgeschichte Der Sinn des Lebens ist das Leben – ein Buch über die Schönheit der Welt, die eigene Unabhängigkeit und den beeindruckenden Weg zurück ins Leben.
Von LINDA DUDACY
Vor 33 Jahren wurde der Maler und Fotograf überfallen und verlor sein Augenlicht. Schonungslos, sachlich und ganz klar schildert Montalembert dieses einschneidende Erlebnis. Innerhalb weniger kurzer Sätze wird der grausame Lauf der Erblindung geschildert. Er berichtet von innerer Gefangenschaft und der Unerträglichkeit der Dunkelheit. Doch: „Als ich blind wurde, habe ich weiterhin gesehen, nur dass ich jetzt die ganze Arbeit selber machen musste, und das hat mich erschöpft… unglaublich erschöpft. Doch nach und nach strengte es mich nicht mehr so an.“ (S. 29)
Seine Familie weiß zuerst nichts von dem Vorfall, Montalembert will versuchen erst einmal selbst damit fertig zu werden. Er kämpft sich zurück in ein neues Leben und berichtet welche Erfahrungen er dabei macht. Wie ein Kind muss der Künstler nun alles neu lernen, muss neu leben. Dabei setzt er sich keine Grenzen, spaziert nachts aus der Klinik hinaus in die große Stadt, um zu lernen, sich allein an Geräuschen zu orientieren.
Unglaublich, nach einem Jahr fliegt er allein nach Indonesien. Von Bali berichtet er, dass es ein „[…] Land ausgeprägter Schönheit […]“ (S. 73) sei. Hugues de Montalembert ist durchaus des Sehens fähig. Seine Art, Dinge zu betrachten, zeichnete ihn schon früher in seinem Beruf als Maler aus. Es ist sehr interessant, wie immer wieder Parallelen aus der Vergangenheit gezogen werden. Hatte der Protagonist also schon immer eine sehr spezielle Verbindung zum Sehen, zum Betrachten der Welt?
Sein Schicksal lässt ihn nicht aufgeben. Er erzählt, wie er auf seinen früheren Reisen als Reporter viele schlimme Schicksale gesehen hat – beispielsweise die Grausamkeit in Vietnam. „Ich habe schon vieles gesehen“ (S. 83) ist seine Begründung nicht selbst am Boden zerstört zu sein, denn andere traf es härter. Amüsant sind vor allem die gelegentlichen Bekanntschaften, die er auf seinen Reisen macht. In Indien wird er auf dem Flughafen von Bettlern beklaut. All sein Hab und Gut bekommt er schon nach wenigen Minuten zurück und wird von den Dieben in ein Taxi gesetzt – die Bettler bemerkten seine Hilflosigkeit und beschlossen alles für ihn zu tun. Im Hotel versuchte ein älterer Herr ihm Hilfestellung beim Schwimmen zu geben, indem er ihm seinen Laufstock während des Bahnenziehens ungefragt vor die Nase hält.
„Im Himalaya habe ich das Blau des Himmels berührt.“ (S. 99). Diese bewegenden Metaphern machen das Werk sehr lesenswert. Sehen ist also ein schöpferischer Akt. Als ein Freund von ihm fragte, wie er sich denn sein Gesicht vorstelle, war Montalembert sehr überrascht, weil er es immer klar vor Augen hatte. Tatsächlich hatte er ihn noch nie gesehen. Manche Menschen seien blind für die Schönheit der Welt, obwohl sie sehen können, manche taub für Musik, obwohl sie sie hören können. Montalembert lernt Klavier, fotografiert auf seinen Reisen und inszeniert 10 Jahre später ein Ballett in Warschau, bei dem er selbst mitspielt. Blind sein sei vor allem eine Selbstkonfrontation und diese zu meistern ist schwer. Doch der 35-Jährige erkämpft sich ein neues Leben.
Im Buch wechseln sich innere Monologe und rationale Erzählungen ab, einzelne Abschnitte können auch unabhängig voneinander gelesen werden. Der Stil ist durchweg sehr sachlich und berichtend. Es ist kein Mitleidsbuch über ein erschütterndes Schicksal. Es lässt den Leser erstaunen und auch Kraft schöpfen aus Montalemberts unerschrockenem Willen immer weiter zu machen, weiter zu gehen. Er beschreibt seine Wahrnehmungen sehr bildlich, vielleicht vor allem deshalb, weil er sie mit Sinnen wahrgenommen hat, die sehenden Menschen zu wenig bewusst sind. Bei seinen Reiseberichten vergisst man manchmal sogar, dass er all die Bilder nie mit den Augen wahrgenommen hat. Seine Geschichte ist sehr ergreifend und das Buch wirklich zu empfehlen.