Absonderliches, das du an ihm wahrnimmst, oder: Mrs. D.s Kreativität

Es kommt äußerst selten vor, dass ich beim Lesen eines Buches laut auflache. Wenn ich aber in einem postmodernen Werk, in dem ja bekanntlich alles passieren kann, plötzlich auf eine Erzählung mit dem Titel „Idee für einen kurzen Dokumentarfilm“ stoße, die lediglich aus dem Satz “Vertreter verschiedener Nahrungsmittelfirmen versuchen ihre eigenen Verpackungen zu öffnen” besteht, dann trifft das genau meinen Humor. Willkommen in der Welt von Lydia Davis!

Von ANDREA SCHAUMLÖFFEL

Lydia Davis, geboren 1947, ist eine amerikanische Schriftstellerin und Übersetzerin und obendrein Exfrau des Erfolgsautors Paul Auster. Die Kurzgeschichtensammlung Varieties of Disturbance erschien bereits 2007 und ist vier Jahre später als Formen der Verstörung endlich auch in deutscher Fassung auf dem Markt erhältlich. Schnell wird dem Leser klar, dass Davis stilistisch und inhaltlich ihrem verflossenen Gatten in nichts nachsteht, wenngleich ihre Texte in eine ganz andere Kerbe schlagen. In ihren facettenreichen Erzählungen lässt sie unverblümt durchscheinen, dass sie die Welt mit anderen Augen betrachtet als so manch anderer. Und genau das ist der rote Faden (der einzige), der sich durch diese mannigfaltigen Formen der Verstörung zieht. Keine Erzählung gleicht der folgenden oder vorhergehenden, sie alle variieren stark in Thematik, Aufbau und Länge. Die „Idee für einen kurzen Dokumentarfilm“ steht beispielsweise in krassem Kontrast zu „Du fehlst uns: Eine Studie der Genesungswünsche einer vierten Klasse Grundschule“, ihres Zeichens 33-seitige Analyse von Briefen, die im Jahre 1952 von zwei Dutzend Viertklässlern auf Geheiß der Lehrerin verfasst wurden, um einem kranken Mitschüler gute Besserung zu wünschen. “Was hat die Autorin sich dabei gedacht?”, mag sich der Leser fragen, und zu dem Schluss kommen: Aus Spaß an der Freud, lediglich aus der puren Lust am Nachdenken, Untersuchen und Schreiben wird ein derartiges Mammutprojekt erwachsen und umgesetzt worden sein. Doch die vielseitig interessierte Frau von Welt kann es nicht lassen, ihre Reflexionen scheinbar willkürlich in alle möglichen Richtungen zu lenken und sich dabei auch weniger wissenschaftlichen Fragenstellungen zuzuwenden:

“Wie geht man als Gastgeberin damit um, wenn Besuch im Haus ist und es im Raum plötzlich nach Furz riecht? Es auf den Hund schieben oder lieber gar nichts sagen?”

“Wie schaffe ich es, mir in einer Stunde 20 Skulpturen anzusehen?”

“Wie ändert sich mein Leben, wenn ich ein Baby habe?” (Antwort: unter Anderem fängst Du an, „paradox“ zu verstehen.)

“Wie werde ich um sie trauern?” (um wen?)

Oft scheint es, als habe die Autorin im Laufe der Zeit jeden noch so kleinen Gedankenfetzen mehr oder minder detailliert ausgearbeitet zu Papier gebracht und alles in diesem Sammelband auf rund 300 Seiten zusammengetragen. Das Ergebnis ist eine Kollektion von erfrischend reichhaltigen, tiefgründigen Ansichten sowohl auf alltägliche als auch ungewöhnliche Dinge, die beizeiten den Lebensweg eines Individuums kreuzen und in einem fantasievoll-nachdenklichen Gemüt Verwirrung stiften können. Und das nicht zu knapp. Formen der Verstörung eben, die im letzten Satz der gleichnamigen Erzählung besonders gut zur Geltung kommen:

„Mein Mann ist verstört, dass meine Mutter sich geweigert hat, die Hilfe meines Bruders anzunehmen, und bei ihm deshalb eine Verstörung ausgelöst hat, und dass sie dadurch, dass sie mir davon berichtete, bei mir eine Verstörung ausgelöst hat, die, wie er meint, größer sei, als mir bewusst sei, und allgemeiner aufgrund der allgemeinen Verstörung, die sie nicht nur bei meinem Bruder ausgelöst hat, sondern auch bei mir, größer, als mir bewusst sei, und häufiger ausgelöst, als mir bewusst sei, und dadurch, dass er mich darauf hinweist, löst das in mir eine noch andere Verstörung aus, die in Art und Grad anders ist als die in mir durch die Erzählung meiner Mutter ausgelöste, denn diese Verstörung betrifft nicht nur mich selbst und meinen Bruder und nicht nur meinen Vater und die von ihm vorausgeahnte und gegenwärtige Verstörung, sondern auch und vor allem meine Mutter selbst, die nun und ganz allgemein, wie mein Mann zurecht feststellt, eine so große Verstörung ausgelöst hat, ihrerseits aber nur von einem kleinen Teil der Verstörung betroffen ist.“

Alles klar?

Lydia Davis: Formen der Verstörung
Literaturverlag Droschl, 273 Seiten
Preis: 22,00 Euro
ISBN: 978-3854207849

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