Eine Mischung aus Kriegsgeschichte und Familiensaga, die aus der Enkelperspektive auf beeindruckende Weise erzählt, was es heißt, hinzufallen und nicht mehr aufstehen zu können.
Von CHRISTINA FROMMERT
Jordi Solers neuer Roman Das Bärenfest beginnt im Jahr 1939 in Spanien. Die Putschisten unter General Francisco Franco gewinnen den drei Jahre andauernden Bürgerkrieg und alle Francogegner, die dazu noch in der Lage sind, versuchen nach Frankreich zu fliehen. So auch der Soldat Oriol, der sich schwer verwundet einem Trupp anschließt, um die Flucht über die Pyrenäen anzutreten. In einem eisigen Schneesturm verliert sich jedoch jede Spur von ihm, sodass seine Familie ihn schließlich für tot erklären muss. Nichtsdestoweniger wird er von ihnen im mexikanischen Exil wie ein Heiliger verehrt und es werden immer spektakulärere Geschichten über seine Flucht nach Frankreich gesponnen. Erst Jahre später, als sein Großenkel ein Buch veröffentlicht, das von dem Krieg und dem verschollenen Verwandten handelt, stellt sich heraus, dass sich die Familie geirrt hat. Solers Protagonist, besagter Großenkel, bekommt den Hinweis, dass Oriol den Schneesturm überlebt hat und schwer verletzt von dem eigenbrötlerischen und etwas beschränkten Ziegenhirten Novembre auf der französischen Seite der Pyrenäen geborgen wurde. Mit Hilfe von Novembre und zahlreichen Polizeiakten beginnt er nach und nach, hinter die glänzende Fassade Oriols zu schauen und dessen gar nicht so heldenhaftes Leben zu rekonstruieren. Schnell muss er feststellen, dass der Krieg nicht nur Helden, sondern auch Monster hervorgebracht hat, und dass sein Großonkel der zweiten Gruppe anzugehören scheint. Während Novembre immer mehr Menschen vor dem eisigen Tod rettete, fristete Oriol ein eher teilnahmsloses Leben an seiner Seite und entwickelte sich von dem gefeierten Helden zu einem nur noch vom Instinkt getriebenen Tier, das auch vor Mord nicht zurückschreckte. Mit Ekel und Schrecken muss sein Großenkel nach Jahrzehnten feststellen, was aus einem Menschen werden kann, der durch den Krieg ein Bein, seine bisherige Identität und seine Familie verloren hat.
Der Ich-Erzähler, der im kompletten Buch ohne Namen bleibt, weist viele autobiografische Züge auf und lässt den Leser mehr als einmal ahnen, dass Jordi Soler hier auch ein Stück weit seine eigene Familiengeschichte erzählt. Trotz der Namenlosigkeit bleibt der Protagonist dieses Romans nicht ohne Gesicht. Soler gelingt es meisterhaft, den Leser mit in die Ermittlungen des Großenkels einzubinden und schafft somit eine enge Bindung zwischen beiden, die es unmöglich macht das Buch beiseitezulegen. Immer wieder gewährt der Autor dem Leser kleine Einblicke in die Zukunft und deutet Entwicklungen an, die noch nicht geschehen sind. Diese proleptischen Vorgriffe bauen einen unglaublichen Spannungsbogen auf und schaffen es mehrfach den Leser schlichtweg zu überraschen.
Der Autor erzählt in einer fein geschliffenen und bildreichen Sprache, wie sich Zivilisation unter bestimmten Bedingungen einfach auflöst, und wie Menschen zu etwas werden, das sie unter anderen Umständen vielleicht nicht geworden wären. Realistisch, aber ebenso emotional, zeigt er, was es bedeutet der Nachfahre von jemandem zu sein, der das Verständnis von richtig und falsch vollkommen verloren hat.
Abschließend verknüpft Jordi Soler die uralte spanische Legende des Bärenfestes mit der Geschichte seiner Protagonisten auf eine gleichermaßen schockierende wie traurige Weise, und offenbart, dass nicht nur vom Krieg gebeutelte Menschen in der Lage sind, ihre Moral zu verlieren. Am Ende wissen ein verwirrter Protagonist und ein betroffener Leser nicht, wem sie ihr Mitleid nun schenken sollen. Ein grandioser und zugleich bewegender Roman darüber, was es heißt, Mensch zu sein.