In ihrem Romandebüt Engel des Vergessens, mit dem Maja Haderlap in diesem Jahr den Ingeborg-Bachmann-Preis gewonnen hat, schildert die Autorin die Erlebnisse ihrer eigenen Vergangenheit und gibt die Erinnerungen ihrer Verwandten, Bekannten und Nachbarn an ihre Mitmenschen weiter, damit sie nicht vergessen werden und sie sich selbst ein wenig von ihnen befreien kann. Die Ereignisse werden von der Ich-Erzählerin in eine eindringliche und poetische Sprache gebettet, dabei aber nicht verharmlost. So kann der Leser ein Stück Zeitgeschichte, von der er vorher vermutlich noch nicht in dieser authentischen Art gehört hat, nacherleben. Auch wenn man es am Anfang vielleicht noch nicht ahnt – dieser Roman ist absolut lesenswert!
von Anja Kleykamp.
Die ersten Seiten sind aufgrund der sonderbaren und ziemlich eigenwilligen Sprache sehr befremdlich zu lesen. Ein junges Mädchen beschreibt den Alltag ihrer Familie in Kärnten. Schnell wird deutlich, dass es sich einsam fühlt, denn zum vom Krieg traumatisierten Vater und ihrer abweisenden Mutter findet es keinen rechten Zugang. Die Großmutter spielt hingegen eine bedeutende Rolle in seinem Leben. Sie ist diejenige, die damit beginnt, ihrer Enkelin aus ihrer Vergangenheit zu erzählen. So erfährt die Protagonistin vom Leben und Sterben im KZ Ravensbrück, dem die Großmutter zwar entkommen ist, das sie aber nicht hinter sich lassen kann. Diese ungewöhnliche Verbindung zwischen Großmutter und Enkelin, welche glaubhaft und emotional geschildert wird, ist es, die den Leser beim Roman verweilen lässt. Man möchte mehr aus der Vergangenheit erfahren und erleben, wie sich das junge Mädchen weiterentwickelt.
Nicht nur die Familie, sondern der ganze Ort ist geprägt von der Vergangenheit, welche die Menschen nicht loslassen will. Und so scheint auch die Protagonistin wie gefangen in den Erzählungen vom Kampf der Partisanen gegen die Nazis, von Folter und Mord in den Vernichtungslagern und den Demütigungen, die die Kärntner Slowenen über sich ergehen lassen mussten. Das Sterben scheint auch in der Gegenwart kein Ende zu nehmen – so gibt die Protagonistin sich die Schuld am Tod einer jungen Frau und wird Zeugin vieler Selbstmorde in der Nachbarschaft. Außerdem ist sie geplagt von der Sorge um den eigenen Vater, welcher selbst immer wieder von Selbstmordgedanken heimgesucht wird und auch des Öfteren versucht, sich mit der Pistole oder dem Strick umzubringen. Zum alkoholkranken Vater entsteht im Laufe der Zeit eine besondere Beziehung. Einerseits möchte das Mädchen ihn schützen und ihm zeigen, wie gut es ihn versteht, andererseits ist es verstört und wütend, wenn der Vater wieder einmal nicht nach Hause kommt oder mit einem seiner Wutausbrüche die Familie in Angst versetzt.
Nach und nach gelingt es der Protagonistin, die vielen Überreste der Vergangenheit in einen Zusammenhang zu bringen, und sie mit der ihr eigenen Sprache dem Leser zu vermitteln. Durch die Schule und das Studium abseits des Elternhauses beginnt sie ein eigenes Leben und entwickelt sich zu einer kritischen und selbstbewussten jungen Frau.
Auch wenn die Lektüre teilweise recht mühsam ist und die Ereignisse der Vergangenheit so bedrückend wirken, dass es dem Leser schwerfällt weiterzulesen, sollte er damit fortfahren, denn am Ende wird er merken, dass es sich gelohnt hat. Die Kindheitsgeschichte Haderlaps erscheint heutzutage (obwohl die Autorin erst 1961 geboren wurde!) eigen und ungewöhnlich, doch wenn man bedenkt, wie viele Menschen Ähnliches zu berichten haben, ist es ein großer Verdienst, andere an diesen Erinnerungen und Gedanken teilhaben zu lassen. In diesem Sinne: Lesen Sie dieses Buch!