Schmerz, Verlust und die verschiedenen Arten damit umzugehen

Meret, eine junge Frau kurz vor dem Abitur, steht erst am Beginn ihres Lebens und ist doch bereits ihres Lebens müde und stürzt sich vom Schuldach. Zurück bleiben ihre Mitschüler, ihre Lehrer, ihre Bekannten. Was waren ihre Beweggründe? Wie gehen ihre Mitmenschen mit diesem schmerzvollen Ereignis um? Jan Böttcher widmet sich in seinem Roman Das Lied vom Tun und Lassen einfühlsam und authentisch diesem Thema, indem er sich aus drei Perspektiven diesen Fragen nähert. Drei Menschen, drei Schicksale, drei Abschnitte.

Von JOELLE SCHAMANN

Immanuel Mauss: Musiklehrer, Besitzer eines alten Bauernhauses, vereinsamter Witwer, der einerseits den Abstand zu seinen Kollegen und andererseits die Nähe zu seinen Schülern sucht. Der Suizid seiner Schülerin Meret vor einigen Monaten geht ihm sehr nahe. Neben dem Fragen nach eigenen Fehlern und eigenem Versagen brechen die Trauer über die Krankheit und den Tod seiner Frau, die zwischenmenschlichen Konflikte und die Vereinsamung in vollem Maße durch. Die Innenperspektive beginnt und endet plötzlich, der Leser erhält nur Einblick in einen kleinen Teil der Gedankenwelt von Immanuel Mauss. Dieser Abschnitt fesselt nicht durch eine spannende Handlung, sondern durch Authentizität, menschliche Fragestellungen und eine poetische Sprache. Viele Sätze sind so ehrlich, berührend oder treffend, dass sie selbst nach mehrmaligem Lesen ihren Reiz nicht verlieren. Immanuel Mauss lässt jedoch noch einige Fragen offen: An was und wie ist seine Frau gestorben? Wie ist sein Verhältnis zu Clarissa? Was empfindet er für Clarissa, was empfand er tatsächlich für Meret?

Johannes Engler: Doktorand der Musik, Single, ein Sohn, Schulgutachter. Die zweite Perspektive bereichert den Roman sehr. Johannes Engler wirkt nicht gerade sympathisch, verhält sich stets äußerst passiv, ist zermürbt durch Selbstzweifel und Versagensgefühle. Seine Perspektive wirft einen kritischen Blick auf die Schule, Mauss und den Suizid. Er ergänzt das bisher vermittelte Bild von Mauss, Clarissa und der Schule. Er ist einerseits Clarissas lolitahaftem Charme verfallen, andererseits erkennt er, dass hinter ihrer Fassade sehr viel zerbröckelt ist.

Clarissa Winterho: Mitschülerin von Meret, zuletzt wohl auch deren Freundin, Geliebte von Engler, ertrinkt in Trauer und Antriebslosigkeit, verfasst einen Bandblog. Während die Gedanken und Emotionen von Mauss und Engler in ihren jeweiligen Abschnitten deutlich werden, ist Clarissas Sichtweise nur zwischen den Zeilen zu finden. Während ihre Mitschüler nach dem Abitur in die weite Welt ziehen, ihr Leben leben möchten, dreht sich Clarissa im Kreis, sie findet aus ihrer Trauer nicht heraus, findet keinen Zugang zu anderen Menschen, insbesondere nicht zu Engler – findet keinen Lebenssinn. Die Band, zunächst einziger Lebensinhalt, wird ihr zu viel, sie zieht sich zurück in ihre kleine, ihr bekannte Welt, wobei Wirklichkeit und Fiktion verschwimmen. Clarissas Sicht ist für den Roman wichtig, fordert den Leser aber auch sehr.

Jan Böttcher schreibt über das Leben, dessen Herausforderungen und wie man mit ihnen umgehen kann. Jede der Hauptfiguren hat andere Wege und Ausdrucksweisen, um mit den positiven und negativen Seiten des Lebens umzugehen. Allen gemeinsam ist eine gewisse Unfähigkeit, Veränderungen im Leben zu bewirken oder zuzulassen.

Sehr spannend ist es für den Leser, mit den unterschiedlichen Kapiteln, andere Perspektiven einzunehmen und zu sehen, dass sich Innen- und Außensicht stark unterscheiden können. Des Weiteren ist die Mischung aus geschriebenem und gesungenem Werk sehr kreativ, außergewöhnlich und spannend. Die in Das Lied vom Tun und Lassen eingeflochtenen musikalischen Inseln im dritten Teil sind originell, da diese selbst getextet und komponiert sind. Auch wenn die Lieder nicht jedermanns Musikgeschmack treffen werden, berühren sie doch durch ihre nachdenklichen, melancholischen Texte, die einfühlsame, sympathische Stimme und die instrumentale Umrahmung. Außerdem muss ein großes Lob für die übersichtliche und ansprechend gestaltete Internetseite (janboettcher.com) mit exzellenten Hintergrundinformationen, die die Erfahrungen beim Lesen sehr schön ergänzen, ausgesprochen werden.

Das Lied vom Tun und Lassen ist ein sehr poetisch geschriebener Roman für Leser, die sich gerne mit Lebensfragen auseinandersetzen, Charaktere kennen lernen möchten und ganz in ein Buch eintauchen möchten.

Jan Böttcher: Das Lied vom Tun und Lassen
Rowohlt, 320 Seiten
Preis: 19,95 Euro
ISBN: 978-3498006587

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