In der Vergangenheit liegt bekanntlich reichlich Stoff zur Freude und Wehmut, zur Zufriedenheit mit sich und zur Reue. Die Vergangenheit ist es auch, die in Sabine Grubers aktuellem Roman Stillbach oder Die Sehnsucht die Leben der einzelnen Protagonist_innen verfolgt, bestimmt und sie untereinander verbindet. Der Roman richtet seine Aufmerksamkeit jedoch nicht nur auf die Lebensgeschichten seiner Hauptpersonen, sondern versucht ebenso die konfliktbeladene gemeinsame deutsch-italienisch-südtirolische Geschichte zu entwirren.
Von MATTHIAS LUDWIG
Ich weine nicht nur um Ines, aber das ist eine andere Geschichte.
Der Roman beginnt mit der Geschichte von Clara Burger, einer Literaturwissenschaftlerin und Schriftstellerin (die Parallelen zu Grubers eigenem Leben sind unverkennbar), die sich, nachdem ihre in Rom lebende Freundin Ines stirbt, auf den Weg in die ewige Stadt macht, um dort den Nachlass ihrer Freundin zu regeln. Clara und Ines, Freundinnen seit Kindestagen, wuchsen gemeinsam in dem südtiroler Dorf Stillbach auf, verließen dieses jedoch, um in der Ferne ihr Glück zu finden. Ines verschlug es schon früh nach Rom, Clara gelangte zunächst nach Wien und dann nach Venedig, wo sie mit ihrem Mann Claus und ihrer aufmüpfigen Tochter Gesine lebt.
Für Clara wird die Fahrt nach Rom nicht nur zu einer Auseinandersetzung mit dem Tod ihrer Freundin, sondern auch zur Vergegenwärtigung ihrer persönlichen Lebenssituation, ihrer Bedürfnisse und Sehnsüchte. Clara ist unglücklich verheiratet. Ihr Ehemann ist ein erfolgreicher Arzt, der ausschließlich seine Arbeit begehrt und Clara nicht die geringste Aufmerksamkeit schenkt. Im Laufe ihres Romaufenthalts wird Clara vollkommen bewusst, was ihr in ihrem Leben fehlt und wonach sie sich sehnt.
Ines’ Manuskript
In Rom angekommen findet Clara in Ines‘ verlassener Wohnung ein Romanskript, an dem die Verstorbene gearbeitet hat. Das Skript erzählt von dem Jahr 1978, in dem Ines in Rom im Hotel Manente arbeitete, von der Hotelbesitzerin Emma Manente (ebenso eine Stillbacherin), die bereits 1938 ihre Heimat verließ, um in Rom als Hoteldienstmädchen zu arbeiten, und den politischen Wirrungen Ende der 70er Jahre in Italien.
Dieses Skript wird vollständig im Roman wiedergegeben und nimmt dabei fast 2/3 des eigentlichen Romanumfangs in Anspruch. Man kann gleichsam von einem Roman im Roman sprechen.
Ines verarbeitet in diesem Romanskript ihre eigenen Erlebnisse aus dem Jahr 1978, aber auch die Lebensgeschichte der Emma Manente, die, nachdem ihr Verlobter bei einem Partisanenanschlag ums Leben kam, nach Rom ging. Emmas Leben ist von Krisen gezeichnet. In Rom wird sie selbst noch nach Jahrzehnten aufgrund ihrer Herkunft verdächtigt, Nationalsozialistin zu sein, und ihre Familie bricht den Kontakt zu ihr ab, da sie es wagt, einen dieser gehassten Italiener zu heiraten, und von ihm sogar ein Kind bekommt.
Rasch werden Parallelen in den Biographien der drei Stillbacherinnen deutlich. Alle drei verließen die Enge ihres heimatlichen Bergdorfs, um in der Ferne zu erkennen, dass Kleingeistigkeit und soziale und gesellschaftlichen Zwänge nicht nur Phänomene abgelegener Bergdörfer sind. Stillbach wird für die drei Frauen zur heimatlichen Sehnsuchtsfantasie, die auf anschauliche Weise das Paradigma einer unwiderruflichen Entwurzelung verdeutlicht.
Mit Gruber sogar flüchtig befreundet
Stillbach oder die Sehnsucht ist ein Roman, der auf mitfühlende Weise die Leben und Sehnsüchte seiner drei Protagonistinnen darlegt. Doch das reicht Sabine Gruber nicht aus. Sie verfolgt neben der Aufarbeitung der Geschichte der Stillbacherinnen auch den Anspruch, die konfliktbeladene deutsch-italienisch-südtirolische Geschichte (des 20. Jahrhunderts) darzulegen und zu erhellen.
Dies gelingt ihr auf erstaunliche Weise, indem sie die politischen und gesellschaftlichen Verwirrungen der faschistischen Herrschaft Mussolinis, die Besatzung durch die Nationalsozialisten und die Kämpfe der Resistenza in einem gekonnten Verfahren in den Verlauf des Roman einbindet, dabei jedoch an keiner Stelle in ein dröges Wiedergeben historischer Ereignisse verfällt. Selbst nicht geschichtsversierte Leser_innen sollten mit dem Roman keine größeren Probleme haben. Mögliche Fragen zu historischen Personen werden in einem Glossar beantwortet. Zusätzlich liefert die Figur Paul an markanten Stellen des Romans wichtige Informationen und weiterführende Erläuterungen.
Wie viel von der Autorin selbst im dem Roman steckt, erkennt man nicht nur an der Namens- und biographischen Ähnlichkeit mit der Figur Clara Burger (Gruber arbeitete ebenfalls als Lektorin in Venedig). Sabine Gruber wird an einer Stelle des Romans sogar namentlich erwähnt: „Ist nicht die in Wien lebende Schriftstellerin Sabine Gruber in Lana aufgewachsen? Wenn sie sich nicht irrte, war Ines mit Gruber sogar flüchtig befreundet gewesen.“ Clara überlegt in dem Zusammenhang, der Gruber Ines‘ Skript zur weiteren Bearbeitung zukommen zu lassen.
Sollen die Romanfiguren und das Geschehen dadurch realistischer wirken? Will sich Sabine Gruber so für die Authentizität der verarbeiteten historischen Fakten verbürgen? Angesicht der harmonischen Komposition dieses Werkes ist ein solcher Schritt jedoch vollkommen überflüssig. Dessen ungeachtet, handelt es sich bei Stillbach oder Die Sehnsucht um einen sehr persönlichen Roman, der mit viel Hingabe geschrieben wurde. Sabine Gruber präsentiert einen überaus empfehlenswerten Roman.