Ein Pole und ein Deutscher wollen einen politischen Gefangenen befreien, einfach so. Spontan brechen sie nach Ostsibirien auf. Olaf Kühl, der Russlandreferent des regierenden Bürgermeisters von Berlin und erfolgreicher Übersetzer aus dem Polnischen und Russischen, versucht sich 2011 erstmals als Romanschriftsteller.
von ASTRID MEIER
Im Jahr 2008 unternahm Olaf Kühl mit seinem Freund Andrej Stasiuk, einem polnischen Schriftsteller, eine Sibirienreise bis nach Zabajkalsk. Was ursprünglich als Grundlage für ein gemeinsames Buchprojekt dienen sollte, wurde zu der Vorlage seines Debütromans Tote Tiere. Das hier gegebene Szenario, ist im Roman nicht schwer wieder zu erkennen: Zwei langjährige Freunde, ein Pole und ein Deutscher, unternehmen eine Reise bis nach Zabajkalsk an der Mongolischen Grenze. Die beiden Protagonisten Konrad und Andrej brauchen neuen Antrieb. Der eine hat „schon lange für nichts mehr so richtig gebrannt” und der andere „fühlt sich gerade seelisch etwas eingeklemmt”. Also, logische Schlussfolgerung, machen sie sich auf, um Michail Chodorkowskij zu befreien, der wahrscheinlich gerade in besagter sibirischer Stadt im Gefängnis sitzt. Beide haben keine wirklichen Informationen über Land und Leute, geschweige denn über den politischen Gefangenen, den sie nun spontan befreien wollen. Frauen und Kinder bleiben Zuhause, weil das Unterfangen ja schließlich zu gefährlich wäre, und sie werden während der Reise auch nicht vermisst. Nur die abstrakt-psychologischen Träume von Andrejs Frau, die ihn anfangs noch häufig als SMS erreichen, bleiben als Kontakt zu einem früheren Leben. Konrad beginnt während seiner kurzen Recherchephase in Berlin, Chodorkowskij zu mögen. Das genügt, und schon wird dieser zu seinem persönlichen Hoffnungssymbol. Von den Gründen für dessen Inhaftierung und den Folgen seiner Befreiung losgelöst, wirkt das Reiseziel sehr scheinheilig. Dass jeder der ihren Weg kreuzt und auf Chodorkowskij angesprochen wird, diesen als Verräter, Oligarch oder Volksfeind bezeichnet, scheint ebenfalls häufig nur wenig zu interessieren.
Andrej und Konrad werden, stets aus Konrads Sicht, als Charaktere sehr unterschiedlicher Natur beschrieben. Über den Ich-Erzähler selbst erfährt der Leser nicht gerade viel. Nur gelegentliche kurze Rückblicke aus seinem Leben in Berlin lassen erahnen, dass es sich um einen wirklichen Menschen mit Vergangenheit handelt. Andrejs erfolgreiche Tätigkeit als Schriftsteller wird anfangs eingehender vorgestellt. In Polen ein literarischer Held, sorgt er in Deutschland stets für Provokation. Er liebt dieses Land nicht, doch erst recht will er nicht nach Russland reisen.
So gelingt es Kühl immerhin sofort aus Andrej einen interessanten und schwer zu durchschauenden Charakter zu machen und es scheinen tatsächlich beide Protagonisten auf ihrer Reise eine Entwicklung durch zu machen. Konrad ist zunächst Sympathieträger, da er, im Gegensatz zu Andrej, an Land und Leuten interessiert ist. In Irkutsk scheint er sich sogar ernsthaft in die hier ansässige Mascha zu verlieben. Die Beziehung zu seiner Frau in Berlin wird nicht erwähnt. Warum thematisiert Kühl an dieser Stelle überhaupt Liebe? Nach vielen weiteren Begegnungen und politischen Diskussionen kommen die beiden in ihrer Zielstadt Zabajkalsk an. Hier ist es an Andrej sich zu verlieben. Auf der Suche nach einem Weg zu Chodorkowskij wird die junge Natascha ihre erhoffte Verbindung zu dem Gefängnis. Sie erkaufen sich das Vertrauen der Obdachlosen zunächst durch Schimmelkäse. Andrej wird tatsächlich eine Vertrauensperson für sie, während Konrad angeblich freiwillig die Rolle des „bösen Cops” einnimmt. Dies geht so weit bis Andrej ihm vorwirft: „Weil du nie mit den Leuten redest!”. Hier also eine gegenläufige Entwicklung, die nur sehr langsam zum Vorschein kommt. Nataschas Ermordung wirft neues Spannungspotential auf, das jedoch nur wenig ausgenutzt wird. Wie so oft bleiben Gefahren sehr unkonkret und spätere Erklärungen sehr schwammig.
Die beiden sehen ihren Plan schließlich als gescheitert an. Ihre letzte Hoffnung auf Chodorkowkijs Befreiung und Aufklärung des Mordes: Grigorij, Nataschas Freund oder Zuhälter, was auch immer. Der will die Reisenden jedoch bei der ewig präsenten Miliz anschwärzen. Ihre Flucht führt sie in die falsche Himmelsrichtung, weg vom gebuchten Flieger. Es ist eine Reise des ständigen Scheiterns. Auf einsamer Piste zurück nach Irkutsk stellt Grigorij sich ihnen in den Weg. Ein kurzes Handgemenge und es herrscht plötzlich wieder die alte Entschlusskraft. Der mit Nataschas Tod einsetzende Zweifel an ihrem ganzen Unternehmen, die Erkenntnis nach wie vor den Kern der russischen Gesellschaft nicht verstanden zu haben; alles wie weggefegt. Sie schließen einen Pakt mit dem gerade beinahe verblutenden Grigorij: Sie sorgen dafür, dass er überlebt, und er hilft ihnen bei Chodorkowskijs Befreiung. Der Leser sieht den Geländewagen quasi gen Sonnenaufgang zu neuen Abenteuern aufbrechen. Wie Konrad kurz zuvor so schön zusammenfasst: “Wir hatten nichts verstanden.”
Häufig scheint es, als sei Tote Tiere die Geschichte zweier Jungs, die sich als Legitimation einer Abenteuerreise irgendein scheinheiliges Ziel gesetzt haben. So bleibt unklar: Handelt es sich hierbei nun um einen politischen Roman, oder einfach nur um die Komödie einer irrwitzigen Reise, oder am Ende um einen Krimi? Es scheint, als setzte Kühl seinen Schwerpunkt zwischenzeitlich auf Handlung der Charaktere um deutlich zu machen: Dies hier ist kein persönliches politisches Statement. Es handelt sich stets um Meinungen fiktiver Personen. Fragen sollen in den Raum gestellt werden, keine Thesen. Trotzdem kann der Leser sich zwischendurch belehrt fühlen. An anderer Stelle scheinen die Beobachtungen unserer Protagonisten tatsächlich auch einfach nur belanglos und leider erfährt der Spannungsbogen erst recht spät seinen Aufschwung durch Nataschas Person. Es bleibt jedoch stets das Spiel mit dem Phänomen Eigen- und Fremdwahrnehmung.
Dem Leser werden Meinungen und Ansichten eines Ich-Erzählers gereicht, die durch seinen Reisekompagnon bestätigt oder auch widerlegt werden. Hinzu kommen die Eindrücke der unterschiedlichsten Landsleute.
Olaf Kühl versteht es, seinem Leser möglichst viele Perspektiven auf den Weg zu geben und möglichst knapp dessen endgültiger Verwirrung auszuweichen.