Der Gedichtband Autobiographie aus Eis des südkoreanischen Lyrikers Choi Seung-Ho ist anders, als ich es erwartet hatte. Der Autor spielt in seinen Gedichten mit scharfen Kontrasten und dem Ekel seiner Leser, indem er auf Themen und Worte zurückgreift, die sich immer am Rande, häufig sogar deutlich jenseits der Grenze des guten Geschmacks bewegen. In jedem Fall berührt er den Leser, die Frage ist nur, welcher Art diese Berührung ist. In meinem Fall äußert sie sich in deutlicher Abneigung und grenzenlosem Unverständnis.
von KATHARINA WINTER
Sein Übersetzer Kurt Drawert beschreibt Choi Seung-Ho als „Nihilist und Provokateur, der den Romantiker grüßt“. In der Tat sind die Gedichte von Seung-Ho sehr vielseitig. Während er Großstädte mit Menschenmassen durchweg schrecklich erscheinen lässt und mit seinen Worten und Themen zahlreiche Tabus bricht, muten seine Naturgedichte romantisch an. Seine provokante Wortwahl und sein Hang zu unappetitlichen Metaphern sorgen für eine Irritation des Lesers, die sich durch das Werk hindurchzieht.
Choi Seung-Hos bei Wallstein erschienener Gedichtband Autobiographie aus Eis ist in drei Kapitel gegliedert:
1. Unpersönlicher Tod
2. Klassifizierung des Regens
3. Autobiographie aus Eis
Das Eis, welches sowohl im Titel als auch in der Unterteilung des Gedichtbandes auftaucht, steht bei Choi Seung-Ho für das Erstarren („Einfrieren“) eines Individuums via schriftlicher Fixierung. Diese Erstarrung ist eher philosophischer Natur und betont erbarmungslos die Vergänglichkeit des Einzelnen.
Die prosaische Lyrik von Seung-Ho zeichnet sich durch ihre zahlreichen Gegensätze aus. Gerade im ersten Teil Unpersönlicher Tod spielt er mit emotionalen Beschreibungen von Kaffeeautomaten und philosophischen Betrachtungen von Toilettenschüsseln. Leblose Gegenstände werden zum Auslöser für emotionale Betrachtungen über die Unmenschlichkeit des Kapitalismus‘.
Zentrum seiner Dichtung ist die südkoreanische Hauptstadt Seoul, wobei sie nicht für diese spezielle und individuelle Stadt, sondern stellvertretend für alle Großstädte steht, in denen das Individuum in der Masse zu verschwinden droht und es mit der Zeit immer mehr an Bedeutung verliert. Im Kontrast zu Seoul stehen romantisch-idealisierende Naturbetrachtungen, die einen Zufluchtsort bieten im Großstadteinheitsbrei. Allerdings betont der Autor immer wieder die Begrenztheit und den langsamen Verfall ebendieses Zufluchtsortes. Die Natur steht bei Seung-Ho häufig mit Religion in Verbindung.
Ekel dient Seung-Ho in seinen Gedichten als stilistisches Mittel sowie als Markenzeichen. Worte wie „Babyhure“, „schächten“, „geschunden“, „verrotten“ und „Leiche“ finden inflationäre Verwendung und lassen den Leser immer wieder innehalten.
„In der Nacht des lächelnden Kapitalismus,
das geschminkte Lepragesicht erhoben,
hängt, im roten Licht der Lampe
in einer großen Metzgerei, der Klumpen Fleisch
von einer alten Hure an einem spitzen Haken.
Blut rinnt aus dem geschächteten Körper, …“
(Ausschnitt aus Rote Körper)
Im Nachwort der deutschen Ausgabe äußert Seung-Hos Übersetzer, dass es ihm teilweise schwer gefallen sei, den Sinn der Gedichte zu erfassen und ihn in der deutschen Sprache angemessen zu vermitteln, bis ihm der Autor seine Gedichte erläutert habe. Mit dem Problem der Sinnfindung war auch ich konfrontiert und frage mich, ob es nicht ratsam gewesen wäre, im Anhang die Erläuterungen des Autors anzufügen.
Ich bin kein Freund drastischer Worte oder unappetitlicher Metaphern, derer sich Seung-Ho reichlich bedient, so kann ich auch nicht leugnen, dass mich die Gedichte bewegt haben, wenn auch im negativen Sinne. Mehrere Male habe ich dem Impuls, das Buch einfach wegzulegen, widerstanden und es bis zum Ende gelesen. Letzten Endes stelle ich fest: Ich habe Lyrik dieser Art zuvor noch nie gelesen und habe nach der Lektüre auch keinerlei Grund, es zu wiederholen, allerdings hat Autobiographie aus Eis sicherlich meinen Horizont erweitert.