Auf der Flucht vor der Angst

Sebastian Polmans’ Roman Junge porträtiert einen Heranwachsenden, der keinen Namen, kein eindeutiges Alter und wenig Bezug zur Realität und den Mitmenschen hat. Anstatt die inneren Konflikte dieses Menschen zu entwirren, verfängt sich das Erstlingswerk des 28-jährigen Autors in oberflächlichen Wahrnehmungen, Erinnerungen und den Phantasien des Jungen und lässt dabei die entscheidenden Fragen offen.

von STEFANIE KÄHNE

Orientierungslosigkeit und Identitätssuche sind Probleme, die vorrangig junge Menschen betreffen. Wenn Heranwachsende sich von den Stützen ihrer Kindheit lösen ohne bereits neue Anker gefunden zu haben, dann reichen schon leichte Erschütterungen, damit sie das Gleichgewicht verlieren. Die Hauptfigur in Sebastian Polmans’ Debütroman Junge interpretierten die Kritiker bisher als einen solchen Heranwachsenden, der sich im Niemandsland zwischen der kindlichen und erwachsenen Welt befindet. Die Sicherheit und Naivität seiner Kinderjahre hat er bereits verloren, eigenständig und unabhängig ist er aber noch nicht geworden. Trotz dieser Diagnose ist Polmans’ Junge nicht lediglich Identifikationsfigur für Gleichaltrige, sondern für alle Menschen, die auf der Suche nach Wahrheit, einem Zuhause oder sich selbst sind.
Der Junge steht hoch oben im Ausguck eines Feuerwachtturmes und beobachtet die Welt, die ihn umgibt. Seinen scharfen Augen entgeht nichts, kein Windzug, kein Sonnenstrahl, auch nicht der Düsenjäger, der soeben im Steilflug hinter einigen Wolken verschwunden ist. Dann, ganz plötzlich, kracht es inmitten dieser Ruhe, als würde der Himmel einstürzen. Doch nichts geschieht; nur der Junge sinkt zu Boden, betäubt von einem Lärm, den nur er zu hören scheint. Angst packt ihn und er stürmt fluchtartig die dunkle Treppe hinunter ins Freie. Unten angekommen besteigt er sein Fahrrad und fährt bergab ins Dorf zurück. Seine Wahrnehmungen und Assoziationen auf dieser Abfahrt zeigen jedoch, dass etwas in dem Jungen durch das mysteriöse Dröhnen oben auf dem Turm aus den Fugen geraten ist. Sein Zustand ist schwindlig, benommen und zittrig. Die Natur erscheint ihm unwirtlich, überall verzerrt sein Blick die Dinge zu gespenstischen Gestalten, er begegnet absonderlichen Personen und wähnt sich von Häschern verfolgt. Sogar bei den Großeltern und im Haus der Eltern entgleitet ihm seine Fassung immer wieder. Die Enge des Dorfes vergrößert die Befangenheit des ohnehin verstörten Jungen noch zusätzlich und er beschließt aus dieser Talsenke fortzugehen, um so seinen Dämonen zu entfliehen.
Der Ausgang dieser Flucht ist, wie alle anderen äußeren Ereignisse, jedoch nur die Oberfläche des Romans. Der Kern des Ganzen ist der Junge selbst; dieser namens- und alterslose Heranwachsende mit seiner präzisen Beobachtungsgabe und unendlichen Einbildungskraft. Der Erzähler nimmt entweder das Innenleben dieses Jungen in den Blick oder betrachtet die Welt durch seine Augen: Der Junge stellt sich vor, „wie es wäre, ein paar Meter durch die Luft zu gehen und nicht abzustürzen“ oder „durch die Blätterdecke zu stürzen und statt auf dem Moos auf den Pflastersteinen des Stellplatzes aufzuschlagen“. Er fragt sich, wie das Knirschen von Ameisenskeletten unter seiner Sohle klingt und fantasiert darüber, wie sich der Untergang der Pequod vor dem Kap der guten Hoffnung ereignet haben könnte. Diese starke Subjektivität ist zugleich Fluch und Segen des Romans: Einerseits befindet sich die Leserin in unmittelbarer Nähe zum Protagonisten, vollzieht dessen Wahrnehmungen und wird von der düsteren Atmosphäre erfasst, die entsteht, weil sich Realität und Illusion nicht mehr voneinander scheiden lassen. Auf der anderen Seite sind die semiphilosophischen Bewusstseinsprozesse und detaillierten Naturbeschreibungen dieses verstörten Jungen nicht besonders geeignet, den Leser zu fesseln. Trotz der intensiven Tuchfühlung mit dem Protagonisten bleibt der Charakter der Hauptfigur zu sehr in der Schwebe, um einzelne Wesensmerkmale klar erfassen zu können. Darüber hinaus erhält die Leserin zu wenig Informationen über die Vergangenheit des Jungen, als dass sie den inneren Hauptkonflikt des Jungen, also die Frage nach dem Ursprung seiner unbändigen Angst, ergründen könnte.
Ein weiteres Rätsel gibt die sprachliche und graphische Gestaltung des Buches auf. An insgesamt sieben Stellen wurden Bilder, die bereits im Text beschrieben werden, als Fotografien hinzugefügt. Woher sie stammen oder warum sie ausgewählt wurden, bleibt unklar. Auch im Sprachstil lassen sich noch einige Unsicherheiten entdecken. Insgesamt ist die Sprache maßvoll poetisiert und die Beobachtungen des Jungen sind besonders in der ersten Hälfte in ausgesuchten und vorsichtig gesetzten, behutsamen Worten gehalten. Doch an anderen Stellen erscheinen kleine grammatikalische Fauxpas und pathetische Floskeln im Text, über die jede zweite Leserin stolpern dürfte. Es ist nicht die klischeefreiste Metapher für Schwermütigkeit, den Jungen denken zu lassen „auf seinem Rücken nicht seinen Rucksack, sondern die ganze Welt zu tragen“.
Man merkt diesem Roman an, dass er das Debüt eines jungen Autors ist. Dennoch wird die vielfach vorgenommene Definition dieses Werkes als Adoleszenzroman der Konzeption des Werkes nicht gerecht. Die Hauptfigur ist kein typischer Jugendlicher, zu extrovertiert ist seine Wahrnehmung und zu verstörend seine Interpretation der Welt. Dieser Junge ist einfach anders als seine Mitmenschen und in besonderem Maße anfällig für die Probleme, die daraus resultieren. Der Roman spürt keinen Ausweg, nicht einmal die Richtung eines Ausgangs oder Hintertürchens auf. Doch was hat er sonst zu bieten? Einen außergewöhnlich stark subjektivierten Blickwinkel, der die Gefühle des Jungen und die gespenstische Grundstimmung im Geschehen gut vermitteln kann. Außerdem einige detailverliebte Wahrnehmungen der Umwelt und vereinzelt kleine, aber neue Deutungen alltäglicher Begebenheiten. Das ist nicht besonders viel, aber es ist mehr als nichts.

Ein Gedanke zu „Auf der Flucht vor der Angst

  1. Gerade die fehlenden Details von inneren Konflikten und Erklärungen erzeugen ja den Sog des Buchs. Als Rezensent sollte man sich auch nicht über die Flosekln eines Autors beschweren (in diesem Fall zurecht) und dann am Ende selbst eine liefern.

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