Hatten historische Romane und ihre prächtigen Schilderungen vergangener Zeiten seit jeher einen festen Platz in der Belletristik, erlebte die Gattung in den 1960er Jahren ihre große Renaissance und fand – Postmoderne sei dank – immer neue, teils sehr aufregende Wege, den Leser die Wendepunkte insbesondere der jüngeren Weltgeschichte aus frischer weil fiktionaler Perspektive aufarbeiten zu lassen. „Mittendrin, statt nur dabei“ schien das Motto zu sein, unter dem so unterschiedliche Autoren wie Milan Kundera oder James Ellroy ihre Figuren vor dem Hintergrund mal des Prager Frühlings, mal des Attentats auf JFK ihre eigenen Konflikte bewältigen und gleichzeitig die begleitende Leserschaft den Geist vergangener Tage einatmen ließen.
Von PETER VIGNOLD
Auch der Franzose Laurent Binet, Jahrgang 1972, hat mit seinem bereits nach dem Erscheinen in Frankreich vor knapp zwei Jahren mit Lob überschütteten HHhH einen historischen Roman geschrieben, in dem er sich mit dem Attentat auf Reinhard Heydrich in Tschechien auseinandersetzt, das der NS-Führungsspitze 1942 einen schweren Schlag versetzte, aber auch eine fürchterliche Vergeltung nach sich zog. Doch anstatt seine Geschichtsstunde via einer fiktiven Nebenfigur abzuwickeln, wie man es mittlerweile nicht mehr anders gewohnt ist, geht Binet einen Schritt weiter und fokussiert nicht nur das Leben, den Aufstieg und den Tod des damaligen Leiters des Reichssicherheitshauptamtes, der als Mastermind hinter dem Holocaust gilt, sondern auch seine eigene Auseinandersetzung mit dem Thema und die Faszination, die es auf ihn als Autor, aber auch als Mensch ausübt. So kehrt er zwischen prosaischen Kapiteln, in denen er Heydrich, Göring oder Himmler wie Romanfiguren behandelt, immer wieder zu sich selbst zurück und zu der Frage, wie man sich einem derartigen Thema überhaupt akkurat nähern kann. Da wird schnell einmal ein Diskurs über Medienkompetenz ausgerollt, wenn Binet nachts im Fernsehen eine Dokumentation über alte Kriegsfilme und deren Vermischung von Fakt und Fiktion erwischt und ihn dies darüber nachdenken lässt, wie die mediale Vermittlung von Geschichte unsere Wahrnehmung solch fragiler Konstrukte wie der „Wahrheit“ beeinträchtigt. So kommt es fast folgerichtig auch immer wieder zu Dialogen zwischen dem Autor und seinen Freunden, die seine soeben vollendeten Kapitel lesen und sich manchmal wundern, ob der eine oder andere dies oder jenes wirklich so gesagt haben kann. Und auch geschieht es, dass Binet ihm unterlaufene Recherchefehler einräumt und diese ein paar Kapitel später korrigiert.
Von einem klassischen Literaturverständnis ausgehend fällt es sehr leicht, Binets Herangehensweise als wischi-waschi abzutun und ihn in eine Reihe mit literarischen Rabauken wie Thor Kunkel oder Jonathan Littell zu stellen, denen die Geschichte des Dritten Reichs in Endstufe respektive Die Wohlgesinnten lediglich als Kulisse für ihre überzeichneten Grotesken diente. Dennoch muss man ihm lassen, dass er mit seiner metafiktionalen Geschichtsstunde der ewig schwelenden Realismusdebatte in der Literatur ein neues Argument hinzugefügt hat, wenn er trotz der von ihm an den Tag gelegten Präzision eines Historikers gar nicht darauf pocht, die Realität zeigen zu wollen und ihr trotzdem näher kommt als mach einer vor ihm. Binets ständiges Springen zwischen den Ebenen, der in kurzen Kapiteln vollzogene, fortwährende Spagat zwischen dem Alltag des kühlen Karrierenazis Heydrich und seiner selbst als seinem Chronisten, machen HHhH – übrigens die Kurzform für Görings Ausspruch „Himmlers Hirn heißt Heydrich“ – zu einem packenden Leseerlebnis, das einen, so man sich drauf einlässt, so schnell nicht wieder los lässt. Und das fast en passant die historiographische Metafiktion der Postmoderne als Schnee von gestern erscheinen lässt.
Wow…coole Rezension!