Antonia Baum, Jahrgang 1984, erzählt in ihrem Debütroman Vollkommen leblos, bestenfalls tot von einer Frau, die verzweifelt versucht, ihr noch junges Leben in eine zielgerichtete Bahn zu lenken.
von ESRA CANPALAT
Jedem, der der heutigen, jungen Generation angehört, ist das Wort nur allzu bekannt: Zukunftsangst. Eine Angst, die einen spätestens kurz vor dem Schulabschluss befällt. Eine Angst, die durch die leistungsorientierte Gesellschaft noch viel stärker geschürt wird. Studieren bedeutet heute dementsprechend nicht mehr lernen, sondern leisten, und das möglichst auf dem schnellsten Weg. Wer kennt nicht die überheblichen Blicke der „Erwachsenen“, der Lehrer und Eltern, wenn man seine Zukunftspläne, seine Wünsche und Vorstellungen äußert. „Und was wird man später damit? Nichts!“, ist ein Satz, den wahrscheinlich viele Jugendliche von Autoritäten hören müssen.
Auch die Protagonistin des Debütromans von Antonia Baum befindet sich in der gleichen Situation. Ihr Wunsch, vielleicht Schauspielerin werden zu wollen, wird von ihrem Lehrer nur belächelt. Doch vor allem möchte sie eins: Weg aus der Heimat, weg aus der Provinz in die Großstadt und ein freies, eigenes Leben führen. Und von besonderer Wichtigkeit ist es, nicht die Fehler ihrer mittlerweile geschiedenen Eltern zu begehen. Kein scheinheiliges, durchdesigntes Leben wie der Vater Götz führen, niemals seine Träume aufgeben wie die Mutter Carmen.
Doch schließlich verstrickt sie sich immer mehr in den nächtlichen „Bäuchen“ der Stadt, streift orientierungslos von einem Rausch in den nächsten, von einem Ort zum anderen, ohne Ziel, ohne eine Vorstellung, was sie mit ihrem Leben anfangen soll. Von der Stadt, nach der sie sich einst so sehr sehnte, wird sie gnadenlos verschlungen.
Und bevor sie sich versieht, macht sie das, was sie sich geschworen hat, niemals zu tun: Sie wird wie ihre Eltern. Klammert sich an einen egomanisches Arschloch fest wie einst ihre Mutter, verbringt ihre Zeit in dekadenten, scheinintellektuellen Künstlerkreisen. Immer wieder reflektiert die Protagonistin minutiös über ihre eigene Situation, entlarvt die Verschrobenheit und die Perversion dieser sogenannten Künstlermenschen – und doch gerät sie nach jedem Befreiungsschlag in die nächste abartige Gesellschaft. Wie diese Künstlerkreise von der Protagonistin zerrissen wird, wie authentisch sie diese Kreaturen skizziert, ist ein wahrer Lesegenuss. Es erinnert stark an die Hasstiraden gegen die Theatermenschen, ganz besonders gegen Hendrik Höfgen bzw. Gustaf Gründgens, in Klaus Manns einst verbotenem Roman Mephisto. Virtuos und detailreich werden die Snobs und vermeintlichen Künstler unserer Gesellschaft demaskiert. Doch nicht nur diese künstlerische Avantgarde, sondern alle Menschen, seien es ihre Eltern oder Unbekannte, werden von ihr mit einer tiefdringenden Psychologie seziert. Bemerkenswert sind auch die Darstellungen des Rauschs und des Wahns der Protagonistin, die nur so von Phantastik und alptraumhaften Motiven strotzen.
Trotz dieser durchaus gelungenen Beschreibungen verschließt sich der Text dem Leser. Die experimentellen, langen und manchmal holprigen Sätze stören den Lesefluss. Das ist schade, denn eigentlich wird man von den Erzählungen der Protagonistin und der düsteren Thematik unaufhaltsam in einen Sog gezogen, der aber durch die merkwürdigen Satzstrukturen merklich unterbrochen wird. Zudem ist der Text auf übertriebene Weise mit Tabuwörtern versehen. Auf jeder zweiten Seite „Hitler“, „Nazi“ oder „Analsex-mit-Kindern-in-SS-Uniform-Katastrophe“ stehen zu haben, macht einen Text nicht experimenteller, interessanter oder schockierender. Zudem lassen einige Rechtschreib- und Grammatikfehler darauf schließen, dass der Roman unachtsam lektoriert worden ist.
Und dennoch ist es Antonia Baum gelungen, ein erschreckendes und allzu wahres Bild der heutigen Jugend zu zeichnen. Einer Jugend, die vor lauter Ausweglosigkeit und Angst zugrunde zu gehen scheint. In dieser unglaublich traurigen und verstörenden Geschichte einer jungen Frau auf der Suche nach Glück werden sich viele – jung und alt – wiederfinden.
Zum Schluss noch ein wunderbares Zitat aus dem Roman. So sollten es Journalisten und Feuilletonisten niemals machen: „Aber der Zeitungsmensch hat trotzdem die Kritik in seinem Kopf völlig haltlos herumstehen, die ihm immer wieder aufträgt, geh bitte schön kritisieren, und was der Zeitungsmensch, der ordnungsgemäße Zeitungsmensch, dann macht, ist, er nimmt sich etwas, das irgendwer produziert hat und stellt es hinter sein kritisches Sprach-Gitter, er vernagelt es mit den allerbilligsten Bausätzen und schmiert seinen Standardleim, den hausüblichen, den ironischen, den zynischen – den, den der immer benutzt, ohne jemals darüber nachgedacht zu haben, dass er ihn benutzt – , diesen Standardleim schmiert er überall dazwischen und verklebt damit einem ganzen Land den Kopf.“
Der Stil Deiner Rezension ist klasse! Wenn das Buch nur halb so gut ist, wie du es beschreibst, dann ist es unbedingt lesenswert!