Leb im Ballungsgebiet, das an Druckstellen wie Fallobst aussieht. Unter diesem Motto hatten Till Beckmann und Kathrin Butt zum 2. Ruhrgebiets-Literaturwettbewerb aufgerufen. Am Freitag, den 10. Februar, fand nun die Preisverleihung und Buchpräsentation zur dazugehörigen Anthologie statt.
von ANNIKA MEYER
19.30h, wir befinden uns in der Bibliothek des Ruhrgebiets in Bochum. Der Raum und sogar die Empore sind voll von Leuten, die ebenfalls der Literatur frönen und die Veranstaltenden sowie Mitwirkenden dieses Abends feiern wollen. Auf der Bühne befinden sich lediglich drei Holzwürfel, drei Mikrofone und eine Schreibtischlampe, Kerzen erhellen die Fensterwand. Im Hintergrund ist eine Fotoshow mit Bildern aus dem Ruhrgebiet zu sehen: karge Straßen, Hühner, die vor Autos mit Essener Kennzeichen herumlaufen, leer stehende Büdchen – Alltagsbilder, die in solch medialer Aufbereitung eine neue Wirkung entfalten. Uwe Frisch, Mitglied der Lesemannschaft, setzt sich an die Akustikgitarre und spielt kurz und beschwingt einige Akkorde. Es kann losgehen.
Ein sichtlich nervöser Till Beckmann führt uns durch den Abend. Er heißt alle herzlich Willkommen, freut sich über die vielen guten Beiträge aus ganz Deutschland und Österreich und dankt allen Helfenden, die unentgeltlich zum Gelingen der Anthologie und des Abends beigetragen haben. Neben den helfenden Händen wird auch die Lesemannschaft, die aus namhaften Theaterschaffenden und –begeisterten besteht, mit viel Applaus bedacht. Nun aber zu den Beiträgen! Die Rundfunk- und Fernsehsprecherin Jule Vollmer liest einen Ausschnitt ihres Anthologiebeitrags Gartenfreunde selbst, unterstützt von der Schauspielerin Maja Beckmann. Mit ukrainischem Akzent und einer bissig-heiteren Geschichte erwirkt sie die ersten Lacher. Es folgen vier weitere Werke aus der Anthologie, die allesamt von der Lesemannschaft in verteilten Rollen vorgelesen werden. Wie das Alter und die Herkunft der Autoren ist auch die Thematik der Texte sehr breit gefächert – sowohl in Prosa als auch in Lyrik wird das Ruhrgebiet in seiner Facettenvielfalt präsentiert; mal trostlos aus den Augen eines Obdachlosen, mal in einem zynischen Monolog über die angebliche Metropole Ruhr. Besonders eindrucksvoll ist Stefan Sprangs Beitrag Sieben, gelesen von Maja Beckmann, Helge Fedder und Frank Wickermann. Die zuvor heitere Stimmung im Raum weicht einer nachdenklichen Spannung, hervorgerufen durch die poetische Sprache, mit der der Autor scheinbar Alltägliches beschreibt. Zu jedem Beitrag erscheint eine neue Fotoshow im Hintergrund: Straßenbahnhaltestellen, abrissreife Häuser, ein Nobelauto vor einem Fachwerkhaus.
Jetzt kommt es zum Höhepunkt des Abends, der Preisverleihung. Die Preisträger sollten im Vorfeld Liederwünsche äußern – Artur Kutsch, Träger des 2. Preises, hat sich Boris Gotts RTL & Rohypnol gewünscht, das von Uwe Frisch an der Gitarre und Maja Beckmann am Kazoo vorgetragen wird. Anschließend tritt Arnd Hepprich, Essener Antiquar, Jurymitglied und Stifter des Wettbewerbspreisgelds, vor das Publikum. Seine Motivation, das Preisgeld zu stiften, ist folgende: „Ich lese unglaublich gerne Arbeiterliteratur aus den 50ern. Und wenn ich will, dass zukünftige Generationen genauso gerne zu unserer gegenwärtigen Ruhrgebietsliteratur greifen, muss diese aktuelle Literatur erst entstehen. Dafür wollen wir hier einen Rahmen bieten.“ Als Erstes bittet Arnd Hepprich die Mühlheimerin Selin Gerlek vor die Bühne, die mit ihrem Gedicht EinLeuchtendes den dritten Platz erzielt hat. Beim kurzen Interview nervös, scheint ihre Aufregung auf der Bühne schnell verflogen, als sie souverän ihr zu Recht prämiertes Gedicht vorträgt. Es handelt von der Suche nach Worten, verbildlicht durch einen toten, in einer Betonlandschaft liegenden Vogel. Laudator Terry Albrecht lobt anschließend den „Überschwang“ und die „Schmerzlichkeit des Lebens“, welche die Jury im Gedicht berührt haben.
Michael Spyra aus Leipzig erhält für sein Gedicht die stimme im käfig, das licht in der grube ebenfalls den dritten Preis. Er wurde bereits in der Anthologie zum 1. Ruhrgebiets-Literaturwettbewerb veröffentlicht und lauscht nun mit uns der Interpretation seines Wunschliedes Gas Panic von Oasis, toll gespielt und gesungen von Uwe Frisch. Auch Michael Spyra liest seinen Beitrag zum Wettbewerb selbst vor. Hierin erzählt er poetisch von der Arbeit unter Tage und der Relevanz der Glasfarbe beim Biergenuss. Terry Albrecht lobt im Namen der gesamten Jury den „Mut zur Vieldeutigkeit und zur lyrischen Dichte“.
Artur Krutsch, der Fotografie in Dortmund studiert und dieses Jahr sein Studium am Deutschen Literaturinstitut Leipzig beginnt, lässt seinen mit dem zweiten Preis prämierten Beitrag Student Samson F. in Dortmund-Nord im Monat Juni des vergangenen Jahres von Nils Beckmann, Till Brinkmann und Helge Fedder vortragen. Uwe Frisch begleitet die Lesung mit leisen Klängen auf der Gitarre. Ausschnitthaft zeigt Artur Krutsch das Leben eines Studenten, der die Beobachtungen über seine Umwelt hauptsächlich in der Bahn oder wartend an der Haltestelle reflektiert. Das Jurymitglied Georg Kentrup lobt den lustvollen, heutigen und dichten Text und begrüßt den „Dortmunder Pop“.
Anschließend wird Marie-Christin Fuchs aus Hamburg für ihre Kurzgeschichte mit dem Titel 51° 32‘ 48‘‘ N, 7° 18‘ 17‘‘ O, der die Koordinaten des Wetterschachts Erin in Castrop-Rauxel verrät, mit dem ersten Platz ausgezeichnet. Gelesen wird ihr Text von Frank Hörner und Frank Wickermann, erneut begleitet Uwe Frisch auf der Gitarre. Der Beitrag handelt von einem Mann, der einsam in seinem Haus bleibt, obwohl dieses einsturzgefährdet ist. Erst der Besuch eines anderen, mysteriösen Mannes bringt wortwörtlich die Erleuchtung. Die Laudatio hält Jurymitglied Dr. Stephanie Heimgartner, Dozentin an der Ruhr-Universität Bochum. Sie erwähnt die „leisen, fast melodischen Sätze“ und den „endzeitlichen Sog“, der die Jury gefesselt hat.
Arnd Hepprich dankt unter lautem und langem Applaus noch einmal Kathrin Butt und Till Beckmann, bevor das Publikum auf einen Umtrunk mit Bier und Brezel in die erste Etage eingeladen wird. Dies zeigt erneut den geselligen Charakter des Abends, den bereits die musikalischen Einlagen und das herzliche Miteinander der Mitwirkenden verdeutlicht haben.
Wer nun aber glaubt, dass dieser Abend das Ende des Wettbewerbs ist, liegt falsch – jetzt geht es erst richtig los. In mindestens 12 Lesestätten im ganzen Ruhrgebiet wird die Lesemannschaft ausgewählte Texte der insgesamt 26 Buchbeiträge zum Besten geben. Hier kann man von einem sadistischen Pfleger mit dem Drang, ein Meisterwerk festzuhalten, hören oder mit auf die Reise via Bahn westwärts heimwärts gehen. So vielseitig und gelungen wie die Preisverleihung sind auch die Beiträge in der Anthologie, die nun im Handel erhältlich ist.
Beckmann, Till und Kathrin Butt (Hrsg.): Druckstellen. Ausgewählte Texte aus dem 2. Ruhrgebiets-Literaturwettbewerb
Klartext Verlag, 144 Seiten
Preis 11,95€
ISBN 978-3-8375-0723-2
Lesetour
16.02.2012
Buchhandlung Napp
Pieperstraße 12, 44789 Bochum
Beginn: 20 Uhr
17.02.2012
Transfer. Bücher und Medien
An der Schlanken Mathilde 3, 44263 Dortmund
18.02.2012
Bahia de Cochinos
Wittener Straße 122, 44575 Castrop-Rauxel
Beginn: 20.00 Uhr
24.02.2012
Alte Druckerei 1926
Bebelstraße 18, 44623 Herne
Beginn: 19.30 Uhr
Danke für den netten Bericht – samt Verlinkung!
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