SAM UND HAILEY UND SAM UND HAILEY. Der ewige Kreis

Ein Buch ohne Anfang und Ende, das nicht nur von beiden Seiten aus gelesen werden kann, sondern auch muss, konstruiert nach strengen formalen Prinzipien. Nach fast sechs Jahren erscheint Mark Z. Danielewskis Only Revolutions nun auch in deutscher Übersetzung. Eine „revolutionäre“ Lektüreerfahrung?

Von KATJA PAPIOREK

Als Sam und Hailey sich zum ersten Mal begegnen, sind beide 16 Jahre alt. Am Ende ihrer Geschichte, nach einem Roadtrip quer durch die USA, jeder Menge Sex, Drugs und Rock’n’Roll, scheinen zweihundert Jahre vergangen, doch beide sind keinen Tag gealtert. Verändert hat sich lediglich die Welt um sie herum. Sie fahren andere Autos, hören andere Musik. Tatsächlich drängt sich aber die Frage auf, ob sich Sam und Hailey überhaupt in derselben Zeit befinden.

Zwei Anfänge also. Die Coverbilder zeigen im Querformat einen in eine Landschaft eingebetteten Highway, nur zu unterscheiden durch die jeweiligen Farbtöne und die Vegetation. Bei der amerikanischen Ausgabe ist sogar die Schrift auf dem Cover der Horizontalen angepasst. Die Qual der Wahl: wo anfangen? Die eine Seite wird erzählt aus der Sicht von Sam, die andere aus der Perspektive von Hailey. Leser von Danielewskis Vorgängerroman Das Haus werden ahnen, dass das nicht die letzte zu treffende Entscheidung ist. So warten im Inneren des Buches 360 Seiten auf die Lektüre. Jede Doppelseite besteht dabei aus 360 Worten, angeordnet zu jeweils vier Cantos, von denen zwei auf dem Kopf stehen. Flankiert wird der Text von Kolumnen, die mit chronologisch angeordneten Daten überschrieben sind, und eine Auflistung der dem jeweiligen Tag zuzuordnenden historischen Ereignisse enthalten. Es entsteht ein Abriss der Weltgeschichte vom 22. November 1863 bis zum 19. Januar 2063, wobei die Daten, die von der Entstehung des Buches im Jahr 2006 aus betrachtet in der Zukunft liegen, den Leser aufzufordern scheinen, wesentliche Ereignisse selbst zu ergänzen. Ist das ein Roman? Oder doch eher ein Gedicht? Die Debatte um die Gattungszugehörigkeit ist längst im Gange. Darüber dürfen sich andere streiten. Nachvollziehbar ist die ganze Aufregung allerdings nur bedingt. Wurde der Roman doch lange Zeit als eben die Gattung gepriesen, die alle anderen Gattungen in sich aufnehmen kann.

Folgt man der Lektüreempfehlung des Verlages, soll nach jeweils acht Seiten das Buch um 180° gewendet werden. Auf diese Weise scheinen sich die beiden Erzählperspektiven zunächst einander anzunähern, driften aber ab der Mitte des Buches wieder auseinander. Für den Leser mag die Illusion einer „revolutionären“ Lektüreerfahrung entstehen, tatsächlich ist der Leseprozess aber durchaus mit dem eines linear gedruckten Textes zu vergleichen. Die Notwendigkeit, das Buch bei der Lektüre zu drehen, korrespondiert allerdings mit der extremen Betonung des Kreises auf formaler und inhaltlicher Ebene.

Der Text ist mehrfarbig gedruckt. Der Buchstabe „O“ (Kreis!) ist, in Anlehnung an die Augenfarben der Protagonisten, durchgängig grün (Sam) bzw. gold (Hailey) dargestellt, während die Daten über den Kolumnen am Seitenrand rot gehalten sind. Die Initialen zu Beginn der einzelnen Abschnitte bilden aneinandergereiht den Endlossatz „SAM UND HAILEY UND SAM UND HAILEY“. Die Originalausgabe weist darüber hinaus eine typographische Besonderheit auf, da das „US“ im Text durchgängig in Großbuchstaben gedruckt ist, und somit nicht nur die beiden Helden einschließt, sondern auch auf die United States zu beziehen ist. Leser der deutschen Ausgabe müssen sich hier mit der Variante „UnS“ zufrieden geben. Die verschiedenen Erzählperspektiven spiegeln nicht nur die Ereignisse, sondern auch die dabei verwendeten Worte. Doch wirken die Schilderungen oft widersprüchlich, Wahrnehmung wird als subjektiv entlarvt. So berichtet Sam etwa davon, dass Hailey nach ihrem ersten Mal unbedingt noch kuscheln wollte, während Hailey erzählt, dass Sam danach in Tränen ausgebrochen ist und von ihr getröstet werden musste. Behauptet Sam, „Ich bin der Berg, von dem die Welt heruntersteigt.“, sieht sich Hailey als „Welt, von der der Berg heruntersteigt.“ Nebenbei wird der Leser auf eine Entdeckungsreise durch die Welt der Flora und Fauna geschickt, während die Wortschöpfungen Danielewskis nicht nur die Übersetzer (Gerhard Falkner und Nora Matocza) auf eine harte Probe stellen.

Sam oder Hailey? Vorn oder hinten? Oben oder unten? Grün mit goldenen Sprenkeln oder Gold mit grünen Sprenkeln? Love it or hate it. Ich hasse es. Weil es mich fordert – heraus und bisweilen auch über. Weil die Lektüre zu einem schwindelerregenden Rausch führt. Weil das Buch mir im Original unlesbar erscheint. Weil mir bei all den Wortschöpfungen auch ein Wörterbuch nicht weiterhelfen kann. Weil ich mich notgedrungen für eine Lektürerichtung entscheiden muss. Weil ich mich erst rein-, dann durchkämpfen muss. Und dafür muss ich dieses Buch einfach lieben.

Mark Z. Danielewski: Only Revolutions. Die Demokratie von Zweien dargelegt & chronologisch angeordnet
Aus dem amerikanischen Englisch von Gerhard Falkner und Nora Matocza
Klett-Cotta, 365 Seiten
Preis: 24,95 Euro
ISBN: 9783608501230

4 Gedanken zu „SAM UND HAILEY UND SAM UND HAILEY. Der ewige Kreis

  1. Danke für diese interessante Rezension und deine Lektüreeindrücke. Ich habe vor vielen Jahren “Das Haus” von Danielewski gelesen und auch wenn es darin immer wieder interessante und faszinierende Passagen gab, hat es mich dennoch nicht begeistern können. Es war vielleicht einfach zu “verspielt”, “revolutionär”.
    Auch wenn mich “Only revolutions” reizt, da mich schwierige oder auch ungewöhnliche Bücher einfach reizen, werde ich es wohl doch nicht lesen, es klingt einfach zu “herausfordernd” … die größte Herausforderung empfinde ich in der freien Entscheidung: wo fange ich an zu lesen, in welche Richtung möchte ich lesen.

    • Eine wirklich gelungene Rezension! Ich kann von Ivan Vladislavic auch “Johannesburg” empfehlen: Man bekommt viele verschiedene “Routen” angeboten, in welcher Reihenfolge man das Buch lesen kann. Mir hat es sehr gefallen!

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