Endgeil

Ab wann ist man eigentlich erwachsen? Wenn man alle großen ersten Male hinter sich hat? Das erste Verliebtsein? Den ersten Kuss? Vielleicht ab dem letzten Schultag? Oder wenn man sich mit Isolierband einen Schnurrbart unter die Nase klebt? Warum Wolfgang Herrndorfs Roman Tschick ein Lieblingsbuch ist.

Von HANNAH KONOPKA

Maik Klingenberg und Andrej Tschichatschow, die Hauptfiguren in Wolfgang Herrndorfs Road-Novel Tschick, sind 1996 geboren und haben Pubertätsprobleme: sie sind Außenseiter, haben Langeweile, fühlen sich ungeliebt. Maiks Vater, ein (noch) reicher Immobilienmakler, ist untreu und lässt den Sohn mit 200 Euro allein im Haus, um auf Geschäftsreise mit seiner Assistentin Mona zu fahren, während Maiks Mutter der „Beautyfarm“ mal wieder einen Besuch abstattet.

„‚Das haben sie doch nicht nötig, Frau Klingenberg!’ Und meine Mutter hat ihren Brandy Alexander runtergekippt und gesagt: ‚War ein Witz, Herr Schuback. Ist ’ne Entzugsklinik.‘“

Dass seine Mutter Alkoholikerin ist und ihren Pappkarton, in dem die Patienten der Klinik ihre Wünsche und Sehnsüchte verstauen sollen, nicht Gott oder Osiris, sondern Karl-Heinz nennt, liest Maik in einem Schulaufsatz allen Mitschülern vor. Sein neuer Spitzname: Psycho.

Als Tschick in Maiks Klasse kommt, fragt er sich: „Schläft der, ist der hacke, oder einfach nur sehr lässig?“ Der Russe mit den schmalen Augen scheint tatsächlich nicht selten besoffen in die Schule zu kommen. Er droht den älteren Mitschülern mit der Russenmafia und bricht ins Spülbecken des Sekretariats. Das macht Maik neugierig.

Die große Enttäuschung, nicht auf die Geburtstagsparty seiner heimlichen Liebe Tatjana Cosic eingeladen zu sein und Tschicks plötzliche Aufdringlichkeit lassen Maik schließlich sein Langweiler-Image überdenken. Warum nicht in die Walachei fahren, die gibt’s ja wirklich! Die Reise der zwei Vierzehnjährigen in einem geklauten Auto beginnt wahnwitzig, bleibt einfallsreich und endet spektakulär.

Wolfgang Herrndorfs frühere Bücher, der Roman In Plüschgewittern (2002) und die Kurzgeschichtensammlung Diesseits des Van-Allen-Gürtels (2007), wurden vom Feuilleton der Popliteratur zugerechnet. Diesmal sind Herrndorfs Helden wesentlich jünger, doch Versatzstücke bleiben: Mit Gedanken über Megan Fox’ Körper und die Musik von Beyonce beim GTA-spielen auf der Playstation ist Maiks und Tschicks Geschichte absolut zeitgemäß. Es geht um Wohlstandsverwahrlosung, Anonymität, das eigentlich gar nicht so schlechte Schlecht-Sein der Menschen, das Leben in Berlin-Marzahn.

Und wie das Buch geschrieben ist, ist „endgeil“. Herrndorf schafft es, genau an den richtigen Stellen den jugendlichen Ausdruck zu treffen. Weil er sonst „keine mit dem Arsch anguckt“, obwohl doch alle in der Klasse „voll in Tatjana sind“, muss Tschick natürlich erörtern, ob Maik nicht schwul ist.

„Find ich nicht schlimm. Ich habe einen Onkel in Moskau, der läuft den ganzen Tag in einer Lederhose mit hinten Arsch offen rum.“

Die Perspektive bleibt dabei ständig jugendlich. Maik fängt erst gar nicht damit an, das Verhalten seiner Mutter zu reflektieren. Dass Steppenwolf eine Band und kein Buch ist, wird nicht weiter kommentiert. Herrndorf unterläuft dabei spielerisch althergebrachte Spannungsmuster, wie die Übergabe eines geheimnisvollen Elixiers an den Helden auf der Reise. Maik und Tschick schmeißen die stinkende Flüssigkeit lieber aus dem Fenster.

Diese Momente sind es, die so viel Spaß machen. Jugendlicher Leichtsinn, viel zu wenig und viel zu viel nachdenken gleichzeitig, pseudophilosophische Gespräche mit dem besten Freund, all das wird an keinem Punkt der Lächerlichkeit preisgegeben. Mit Maiks und Tschicks Sicht auf die Welt denkt man sehnsüchtig an die eigene Jugend zurück. Vor den ersten Malen war eben alles einfacherer, und gleichzeitig auch viel komplizierter.

Wolfgang Herrendorf: Tschick

Rororo: 256 Seiten

Preis: 8,99 Euro

ISBN: 978-3499256356

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