Die Duftblumen im Trockengesteck

Das neue Buch Märzveilchen von Sarah Kirsch bemüht sich zwischen Naturbetrachtungen, Zeitgeschichte und Lyrik um Poesie.

Märzveilchen, so heißt die neueste Veröffentlichung längst geschriebener Vergangenheit aus Sarah Kirschs Feder, handelt es sich doch scheinbar um Tagebuchartiges der Autorin vom Dezember 2001 bis zum Herbst 2002. Was hier geboten wird, gibt sich also botanisch und verspricht einen besonderen Duft; doch dieser erscheint eher profan als betörend, eher ungewollt aufdringlich als gekonnt dezent.

Von SYLVIA KOKOT

Versprochen wird „ein idyllischer Kosmos, in den allerdings die Außenwelt einbricht“. Was der Leser findet, ist ein Konglomerat aus Tagebuchaufzeichnungen mit lyrischen Einsprengseln à la Kirsch: Reflektionen über das eigene Schreiben, Verlagsverhandlungen, Wetter- und Naturbeschreibungen, weltweites Tagesgeschehen, Feuilletonkritik. Alltag also. Dies wird, wie bei Frau Kirsch üblich, in einer eigentümlichen Dehnung orthographischer Praxis präsentiert, die wiederum eine ebenso eigentümliche Spannung zwischen potentieller Ästhetik und ermüdendem Stil aufbaut. Klingen die Monatsbezeichnungen „Jaguar“, „Zebra“, „Nerz“ noch irgendwie ‚zauberhaft‘, erscheinen in Lokalkolorit gekleidete sprachliche Ausformungen wie „Nun geiht dat wieder mit mir […] aber was nich is das is nich […]“ (191) und die Verwendung fremder, hier englischer, Zungen wie in „Only 8 Grad am Morgen“ (225) dagegen ohne „poetische[n] Mehrwert“, wie bereits Sabine Doering in der FAZ kritisch anmerkt.

(Socken-)Stricken für die Poetik

Doch vielleicht eröffnet sich darin gerade eine Stärke des Bandes: Zwischen Pseudo-Authentizität und einer suggerierten Verhaftung in der Alltagswelt lässt sich eventuell eine Poetologie Kirschs finden. Sie schreibt selbst davon, ihre Texte zu „dressieren“; Textproduktion ist also nichts Fließendes, sondern etwas zu Trainierendes. Ihre Texte sind keine Zeugnisse einer wie auch immer aussehenden Realität – und somit auch nicht authentisch (wenn dies überhaupt noch als Kategorie an Literatur herangetragen werden sollte) – sondern artifizielle Produkte eines bewussten Gestaltungswillens. Und das zeigt sie dem geneigten Leser hier: Ist das Sockenstricken während langer TV-Abende, das über Tage hinweg fortgeführt wird, nicht ein Sinnbild für den kreativen Kirsch’schen Schreib- und Erinnerungsprozess insgesamt: „[S]iehe! ab Weiß und Purpur wurde der Quastenflosserfilm genauestens! abgerufen. War alles in den Wollfarben verknüpft und gespeichert.“ (93) Wer denkt da nicht an den Webstuhl der Zeit, an Schicksals- und Ariadnefäden?

Zwischen 9/11 und „Fischschuppenwolken“

Hinterfragbar bleibt hingegen die Auswahl der Alltagsereignisse, die es schaffen, in den Webteppich der tagebuchartigen Prosa ‚hineindressiert‘ zu werden: Sie figurieren zu brisanten Schnipseln, wenn z.B. die Lage in Afghanistan, der drohende Irakkrieg als Folge 9/11s oder der Amoklauf von Erfurt kommentiert werden und kumulieren zu einem Rechtfertigungsgestus. Die Tagebuchdaten werden aus der ihnen möglichen Fiktionalität in einen Zeitbezug gezwungen, der sie mehr beschneidet als ihr Potential zur Vielseitigkeit zu verstärken. Der Text soll wohl auch auf realhistorischer Ebene seine Daseinsberechtigung erhalten. „Fischschuppenwolken, ein durchgesäbelter Mond und krachendes Eis in den Gräben“ (19) reichen scheinbar nicht.

Literaten, Literaturkritik und literarisch-fischige Trophäen

In den Einträgen finden sich aber auch Anekdoten und Einschätzungen zum zeitgenössischen Literaturmarkt, die zumindest den Feuilleton-interessierten Leser amüsieren könnten. So wird neben anderen Neuerscheinungen der damals neue Grass Im Krebsgang verrissen und zum erstmals vergebenen Bücherpreis schreibt das Tagebuch-Ich fast hämisch: „[…] und die erste Preisträgerin ist zufällig Tante Christa für ihren neuen Weißwäscherromahn, wo es um Genesung geht. Symbollik!!!“ (73) Und auch die zu erringende Trophäe – Grass’ Butt im Griff – kommt nicht gut dabei weg: „Eine abgehackte Hand mit einem stinkenden Fisch. Hab ich schon Tränen gelacht!“ (77)

Ob das reicht, um Leser zu begeistern? Eine duftende Poesie, die für sich selbst stehen könnte, wird vom Alltag durchkreuzt, der sich als ‚Einbrecher‘ tarnt und sich zudem in den ausgelegten labyrinthischen Wollfäden des strickenden Ichs verliert. Wer Kirsch mag, wird (nicht unbedingt) Märzveilchen lieben. Es ist nach Sommerhütchen (2008) und Krähengeschwätz (2010), nicht die erste und nicht die einzige Auskopplung aus den scheinbar unerschöpflichen Weiten der Kirsch’schen Tagebücher. Ob es eine überflüssige ist? Überraschendes findet sich jedenfalls nicht, – aber es ist ja auch von 2001/2002, das Tagebuch, wie soll es da Neuwert haben.

Sarah Kirsch: Märzveilchen

DVA, 237 Seiten

Preis: 19,99 Euro

ISBN: 9783421045416

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