Verschwunden. Weggeworfen. Vergessen. In Paul Austers Sunset Park wimmelt es von „aufgegebenen Dingen“, Menschen und Häusern. Zurückgelassen auf der Flucht – vor Gläubigern, der Familie, Schuldgefühlen und der eigenen Sexualität. Eine „Geschichte des Scheiterns“?
von KATJA PAPIOREK
Miles Heller hat das College aufgegeben, den Kontakt zu seiner Familie abgebrochen und seine Heimatstadt New York verlassen. Seit mehr als sieben Jahren reist er durch das Land und schlägt sich mit Gelegenheitsjobs durch, geplagt von seinem Gewissen und der quälenden Frage, wie viel Schuld er an dem Unfalltod seines Stiefbruders trägt. In Florida arbeitet er für eine Entrümplungsfirma. „Seit fast einem Jahr macht er Fotos von aufgegebenen Dingen“, weil diese die Geschichte ihrer früheren Besitzer erzählen. Miles hat sich vorgenommen, „in der Gegenwart zu leben, sich auf das Hier und Jetzt zu beschränken.“ Dabei übt er weitestgehend Verzicht, „und abgesehen von seinen Ausgaben für die dringendsten Grundbedürfnisse leistet er sich nur einen einzigen Luxus: Er kauft Bücher, Taschenbücher, hauptsächlich Romane, […] doch am Ende sind Bücher kein Luxus, sondern eine Notwendigkeit, und Lesen ist eine Sucht, von der er keinesfalls geheilt werden möchte.“ Längst Zeit weiterzuziehen, wäre da nicht Pilar – minderjährige Schülerin, Vollwaise und Liebe seines Lebens. Doch als deren Schwestern Miles mit einer Anzeige drohen, kommt das Angebot von Bing Nathan, einem Freund aus Schulzeiten, gerade recht.
Alltägliches Scheitern
Miles kehrt zurück nach New York und zieht in ein vergessenes und heruntergekommenes Haus am Sunset Park, ein Vorgang den Bing nach dem Auszug seiner Ex-Freundin Millie für „alphabetisch kohärent“ hält. Ein Experiment, eine temporäre Wohngemeinschaft – wissen doch alle Bewohner, dass die Räumung nur eine Frage der Zeit ist. Erzählt wird in wechselnder Perspektive, neben den vier Bewohnern kommen auch Miles Eltern zu Wort. Im Mittelpunkt steht dabei das je eigene Scheitern, die eigene Hoffnungs- und Perspektivlosigkeit: Bing, der eigentlich Musiker ist, davon aber nicht leben kann und deshalb eine Klinik für kaputte Dinge betreibt, verlassen und sexuell desorientiert; Ellen, die erfolglos als Immobilienmaklerin arbeitet, Malerin sein möchte und einer verflossenen Liebe nachtrauert; Alice, die mit der Vollendung ihrer Doktorarbeit kämpft und nebenbei im Büro des PEN arbeitet; Miles, auf der Flucht vor dem Gesetz, der sich nun doch seiner Vergangenheit stellen muss; Morris Heller, dessen Verlag kurz vor dem Bankrott steht, weil niemand mehr Bücher liest, bedroht von Alter, Krankheit und dem Scheitern seiner zweiten Ehe; Mary-Lee Swann, deren Schauspielkarriere sich dem Ende zu neigen scheint. Ungeliebte Jobs, nicht ausgelebte Leidenschaften, kreative Träumereien, Mittellosigkeit, Heimatlosigkeit. Aber ist das Scheitern? Klingt das nicht verdächtig nach der Welt, in der wir leben?
Fehlt noch Pilar: die Eltern verloren, von den Schwestern enttäuscht, getrennt von ihrem Freund. Für sie wagt Miles einen Neuanfang, arbeitet seine Vergangenheit auf, schmiedet Pläne für eine gemeinsame Zukunft. Sie ist jung, hübsch, intelligent, hat eine Perspektive und Hoffnung – und scheint damit das Gegenbild aller anderen Figuren im Roman darzustellen. Trotzdem bleibt sie stumm. Ihre Perspektive bleibt dem Leser verborgen. Vielleicht weil ihr Blick in die Zukunft naiv ist. So kann sie zwar kurzfristig als Projektionsfläche für Miles’ vor vielen Jahren aufgegebene Hoffnungen dienen, doch am Ende des Textes stehen wir und die Figuren scheinbar wieder am Ausgangspunkt: resigniert, ohne Hoffnung, ohne Zukunft, ohne Aussicht auf ein Happy End. Was bleibt ist die Gegenwart: „[…] nur noch für das Jetzt leben, für diesen Augenblick, diesen flüchtigen Augenblick, das Jetzt, das hier ist und dann doch nicht hier ist, das Jetzt, das für immer verschwunden ist.“ Im Hier und Jetzt zu leben heißt aber auch, die Vergangenheit hinter sich zu lassen. Da ist es nur konsequent, dass es das Haus am Sunset Park nicht (mehr) gibt. Wer sich trotzdem auf die Pilgerreise begibt, um dann freudig ein paar Beweisfotos vorlegen zu können, ist noch nicht in der Gegenwart angekommen, hat noch nicht begriffen, was es heißt, für den Augenblick zu leben.
Der andere Auster
Ist das ein neuer Auster? Sunset Park ist Austers erster Roman mit wechselnder Erzählperspektive. Labyrinthische Strukturen, Rätsel, metafiktionale Ebenen sucht der Leser vergeblich. Natürlich ist das anders. Aber vielleicht ist das auch nur ein Trick? Ein erzählerischer Kunstgriff? Ein Spiel mit den Erwartungen des Lesers? Ganz ohne intertextuelle Verweise und Selbstreferentialität kommt Auster dann jedenfalls doch nicht aus. Der Film Die besten Jahre unseres Lebens zieht sich leitmotivisch durch den gesamten Text, Miles’ Mutter spielt Winnie in Samuel Becketts Glückliche Tage und Miles und Pilar lesen F. Scott Fitzgeralds Der große Gatsby – Werke die zweifellos auf die Grundstimmung in Austers Roman anspielen. Vielleicht ein anderer Auster, aber nicht weniger großartig.
Liebe Katja, was für eine schöne Rezension, die Lust macht, das Buch schnellstmöglich in die Hand zu nehmen und zu lesen. Um ehrlich zu sein ist Auster ein Autor, den ich bereits sehr lange in Suchbewegungen umkreise, jedoch bisher noch nicht gelesen habe – bis auf einen sehr interessanten Essayband von ihm. Ich freue mich bereits jetzt schon auf “Sunset Park”. 🙂
Viel Spaß damit. Ich bin gespannt, wie Dir “Sunset Park” gefällt – und ob Du dann vielleicht Lust hast, noch ein paar andere Romane von Auster zu lesen. Von mir gibt’s auf jeden Fall eine uneingeschränkte Empfehlung. Ich freue mich schon auf “Winter Journal”, den neusten Roman von Auster.
Ich bin auch schon sehr gespannt; Mut macht mir, dass der Roman bisher sehr positiv besprochen wurde. Auf meiner Leseliste steht auf jeden Fall auch schon mal “Unsichtbar” und auf “Winter Journal” bin ich auch schon gespannt, warte dann aber erst einmal deine Einschätzung dazu ab … 🙂
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