Die Dekadenz des Erzählens

In Christian Schüles Romandebüt Das Ende unserer Tage wimmelt es von Heilsbringern, skrupellosen Geschäftsleuten und skurrilen Gestalten. Asiatische Investoren und Firmen überrollen die prosperierende Hansestadt Hamburg, in Kirchen nisten sich Eventagenturen ein und der geneigte Leser erahnt schon auf den ersten Seiten des Romans das Donnergrollen der sich zu entfaltenden Apokalypse: „Am 2. Mai fand der erstaunlich kompakte Käfig seinen Weg zu Hans-Joachim Hegenbarth, der es als witzig erachtete, ihn samt der ausgestopften rotäugigen, marderartigen Kreatur mit in sein Büro zu bringen. Ob Zufall oder Schicksal – an diesem Tag begann das Verhängnis von Jan-Philipp Hertz seinen Lauf zu nehmen.“

von NADINE HEMGESBERG

Matias Faldbakken hat es in seinem zweiten Teil der Skandinavischen Misanthropie mit Macht und Rebel bereits höchst anschaulich durchexerziert: sich des Mainstreams bedienende Underground-Strukturen gegen Turbokapitalismus. Am Ende herrscht das blanke Chaos, in einem Balanceakt zwischen Ironie und Ernst verschwimmt die Welt zu einer großen Bühne der menschlichen Eitelkeiten. Ähnlich skizziert Christian Schüle, Essayist und Reporter für die ZEIT und mare, seine Geschichte rund um den Netzwerklogistiker und „Doppelagenten“ Jan-Philipp Hertz.

Humankapital ohne Herz

Hertz ist steiler Emporkömmling des Bankhauses John & Jacobi. Einst protegiert von seinem Chef Hans-Joachim Hegenbarth, lässt dieser ihn jedoch in der aufkommenden Krise des Bankhauses fallen wie eine heiße Kartoffel. Hertz macht sich selbstständig, agiert nun zwischen den Fronten der asiatischen Aktionäre, der „Revitalistischen Gesellschaft“, deren Heilsbringer Jesus Emperado die Menschen mit dem Mantra „Du bist dein eigener Gott“ indoktriniert, und der Revolutionsfigur Charly Spengler, dessen New-York Hamburger Gummi-Waaren Compagnie AG zum Leidwesen seiner treuen Mitarbeiterschaft einem Vergnügungszentrum weichen soll. Christian Schüle peitscht seine LeserInnen durch den Plot, spart keine Satzkapriole aus – jeder Absatz, jede Zeile ist ein Hort überbordender Fabulierkunst. Hertz jedoch bleibt ein Abziehbild, ein Protagonist ohne Identifikationspotential und Kontur. Ein kurzer Ausschnitt einer Konversation mit der todessehnsüchtigen Künstlerin Mascha Probst ist Schaubild für die Figur Hertz:

„Hör zu“, sagte Hertz, „mich nimmt das zu sehr mit.“

„Dann hast du das Leben ja begriffen…“

„Was soll das heißen?“

„Vergisses.“

Ein lautmalerischer Name, dessen Überspitztheit stellvertretend für die ganze Riege der Manager und skurrilen Gestalten der Erzählung steht. Viel Schein, viele Worthülsen, die die Dekadenz einer Gesellschaft entlarven – oftmals als inhaltlosen Schnörkel ohne Hand und Fuß. Auch auf textueller Ebene wird diese Dekadenz deutlich: Schüle ist ein Ästhet. Seine Sätze lesen sich in einem ungeheuren Tempo, fein geschliffen und immer adrett: „Als Hertz an jenem 23. Mai durch das Drehkreuz in die Ungewissheit eines eigensinnigen Lebens ging, schlugen zur selben Zeit acht Kilometer südlich zahllose Blitze an die Backsteinwände der New-York Hamburger Gummi-Waaren Compagnie AG. Ein Flackern kam über Harburg, blaue Blasen Licht, die in den Kronen der Kastanien platzten. Während es Goldfasern regnete und violett getönte Blütensträuße rieselte, entleerten sich Lichtdärme in kristalline Kränze. Schirme zerstäubten im Aufgehen, und auf Augenhöhe floss ein Hauch Magenta in einen nervösen Schein von Gold, als lege sich über die Fabrik eine bedeutsame Nachricht zu Boden.“

Das Fass zum Überlaufen bringen

Bei allen Vorausdeutungen wie dem rotäugigen, marderartigen Tier zu Beginn, Rückschauen, den parallel geschalteten Erzählsträngen, Rückgriffen und Nebenschauplätzen, lässt sich leicht der Überblick verlieren. Geht das erzähltheoretische Spiel Schüles hier auf? Die Turbovernetzung von Mensch und Wort? Schüle schöpft aus den Vollen, packt ein Sujet nach dem anderen auf die Erzähltheke: die am Leben leidende Künstlerin Mascha, ein sich anschließender Kunstdiskurs, die Erhabenheit der Frau, die Erhabenheit durch Entsagung, was ist das Leben wert im Angesicht des Todes, wer erlöst die Welt, Kapitalismus, Kapitalismuskritik, Spiritualität, Dekadenz, die Frage nach einem kulturellen Erbe Europas … – und zuletzt die Welt als Bühne? „Die ganze Welt ist Bühne und alle Frauen und Männer bloße Spieler, sie treten auf und gehen wieder ab“, um es mit Shakespeares Worten zu sagen. Genau dies ist der Tropfen auf dem heißen Stein, ein Effekt der Konstruktion, der überflüssig verpufft.

Christian Schüles Debüt ist ein erzähltheoretischer Sprint zwischen großer Erzählkunst und allzu starker Konstruiertheit. Dennoch ein großer Lesegenuss, gerade wegen Schüles unbändigem Stil.

Christian Schüle: Das Ende unserer Tage
Klett-Cotta, 457 Seiten
Preis: 22,95 Euro
ISBN: 978-3608939620

Kommentar verfassen