Anfang des 20. Jahrhunderts macht sich eine Gruppe von Japanerinnen auf den Weg nach Kalifornien, um dort japanische Einwanderer zu heiraten. Ihre zukünftigen Ehemänner kennen sie nur von Fotografien. Voller Neugier, aber auch Trauer und Unsicherheit teilen die Frauen in nächtlichen Gesprächen ihre Hoffnungen und Träume. Als sie endlich in Amerika ankommen, merken sie nicht nur, dass ihre Männer in keinster Weise den Abbildern entsprechen, sondern auch, dass ihre Träume an der Realität zerbrechen werden. Julie Otsuka verleiht in Wovon wir träumten diesen Frauen eine (!) Stimme.
von ESRA CANPALAT
Otsuka beschreibt bereits im ersten Kapitel sehr ausführlich und mit liebevollen Details die Frauen an Bord des Schiffes, welche alle nicht unterschiedlicher sein können. Sie berichtet von den armen Mädchen in ihren zerschlissenen, von ihren Geschwistern ausgetragenen Kleidern, von ruppigen Frauen vom Land, die harte Arbeit gewohnt sind, von älteren Damen, die in der Heimat keiner heiraten wollte, von sehr erfahrenen Frauen, die den anderen Tipps in Sachen Liebe geben. Obwohl Otsuka uns verschiedene Individuen präsentiert, erscheinen die Frauen als Kollektiv. Dies wird vor allem durch die Erzählperspektive evoziert: Die Geschichte wird durchgehend in der ersten Person Plural erzählt: „Auf dem Schiff waren die meisten von uns Jungfrauen. Wir hatten langes schwarzes Haar und flache, breite Füße, und wir waren nicht sehr groß.“ Manchmal ist die Stimme einer Einzelnen, eines Ichs, zu vernehmen, was im Text durch Kursivschrift gekennzeichnet ist. Doch diese eine Stimme spricht für alle. So zerschmelzen die individuellen Schicksale zu einem gemeinsamen.
Poesie der Anapher
Was den Text Otsukas ebenfalls lesenswert macht, sind die geradezu zyklischen Sätze. Durch eine Reihe von sich wiederholenden Satzstrukturen erfahren wir von der desillusionierenden Ankunft der Japanerinnen, der Unbarmherzigkeit ihrer Männer, der harten Feldarbeit, die sie eigentlich – so hatten es ihre Männer in den Briefen versprochen – in Amerika nie wieder verrichten sollten, von den Geburten ihrer Kinder: „Wir gebaren unter Eichen, im Sommer, bei fünfundvierzig Grad Hitze. Wir gebaren in Einzimmerhütten neben Holzöfen, in den kältesten Nächten des Jahres. Wir gebaren auf windigen Inseln im Delta, sechs Monate nach unserer Ankunft, und die Babys waren winzig und durchsichtig, und drei Tage später starben sie.“ Was in einem anderen Kontext vielleicht ermüdend und langweilig erscheint, wird bei Otsuka zu einer Poesie der Anapher: Otsuka gibt dem Leser einen intensiven Einblick in das Leben der japanischen Einwanderinnen und zwingt ihn durch die ständige Wiederholung in einer bestimmten Situation zu verharren und somit die Lebenslage der Frauen besser zu verstehen.
Eine Frage, die nie gestellt wird
Manches, das die Frauen uns vertraulich zu berichten scheinen, erfüllt uns voller Grauen. Gerade das ständige Aneinanderreihen von Anaphern unterstützt unser Entsetzen und unsere Sprachlosigkeit, beispielsweise wenn berichtet wird, mit welcher Grausamkeit die von der langen Reise erschöpften Frauen von ihren Männern empfangen, zu welch schrecklichen Dingen sie gezwungen, wie sie misshandelt und vergewaltigt werden. Die Träume, welche die Damen noch auf dem Schiff gesponnen habe, zerplatzen umgehend, und es beginnt in der neuen Welt ein Leben, das einem Martyrium gleicht. Spätestens bis zu dem Zeitpunkt, an dem alle japanischen Einwanderer aufgrund der Angriffe auf Pearl Harbor diskriminiert und verfolgt werden, fragt man sich, wie viel diese Menschen noch ertragen müssen. Doch diese Frage wird von den Frauen nie gestellt, auch nicht, als sie von der Regierung gezwungen werden, ihr neu gewonnenes, mühsam aufgebautes Zuhause zu verlassen. Sie ertragen jeden Schmerz mit einer bemerkenswerten, würdevollen Ruhe. Und auch Julie Otsuka erzählt die Geschichte dieser Frauen nicht mit einer entsetzten Sprache, sondern in leisen, behutsamen Tönen.
„Dieses kleine Buch hat mir einfach das Herz gestohlen“, sagte Martia Golden, Jurorin des PEN/Faulkner Awards, mit dem Julie Otsukas Roman ausgezeichnet wurde. Sie bringt es dabei genau auf den Punkt: Es ist ein kleines, leises Buch, das aber Großes beim Leser bewirkt.