Viel ist in den letzten Jahren geschrieben worden über die portugiesische Kapitale, die vermeintliche „Hauptstadt der Sehnsucht“, der „saudade“. Wir wollen einen Versuch wagen, auf neuen und auf bekannten Wegen durch die Stadt am Tejo zu streifen. Auftakt zur Serie Lissabon erlesen.
Von PHILIPP KAMPSCHROER
„Hier endet das Meer, und das Land beginnt. Es regnet auf die fahlbleiche Stadt, die Wasser des Flusses ziehen lehmig trüb dahin, überflutet sind die Niederungen.“ Es ist ein seltenes Bild, das sich Ricardo Reis bei seiner Ankunft bietet. „Die fremdländischen Kinder, von der Natur am verschwenderischsten mit der Tugend der Neugier ausgestattet, wollen wissen, wie diese Stadt heißt, und die Eltern sagen es ihnen, oder die Ammen, die nurses, bonnes, Fräuleins oder ein Matrose, der kurz vor dem Anlagemanöver vorbeieilt, Lisboa, Lisbon, Lisbonne, Lissabon“. Ricardo Reis ist wieder dort, wo er geboren wurde, in seiner Heimat, welcher der Arzt für 18 Jahre den Rücken gekehrt hatte, um in Rio de Janeiro ein neues Leben zu beginnen. Dann geht er von Bord, der Mediziner mit dem Hang zum Poetischen, ein Sohn im Geiste des großen Dichters Fernando Pessoa, betritt die „fahlbleiche“, die „düstere Stadt“, die doch sonst so oft vom hellen Sonnenlicht verwöhnt wird.
José Saramago erweckt in seinem Roman Das Todesjahr des Ricardo Reis nicht nur das bedrohliche Lissabon der 1930er Jahre, sondern auch ein Alter Ego, ein sogenanntes Heteronym des Schriftstellers Fernando Pessoa, zum Leben. Wir streifen mit Ricardo Reis, dem Verfasser von tiefsinnigen Oden, durch eine Stadt, der Saramago mit den feinsten Trickmitteln der Postmoderne neues Leben einhaucht. Es ist Winter 1935/36.
40 Jahre zuvor war bereits ein anderer Vagabund hier angekommen: Felix Krull, der Hochstapler, hatte das Leben in den schmucken Cafés der Altstadt genossen. Und 10 Jahre nach Ricardo Reis, das Gespenst des Zweiten Weltkriegs versetzt ganz Europa in Angst und Schrecken, kommt ein Flüchtling in die „weiße Stadt“. Er ist ein Namenloser, der sein letztes Geld im Casino von Estoril verspielt hat und nachts verzweifelt an den Quais entlangstreift, dort, wo Ricardo Reis damals an einem trüben Dezembertag an Land gegangen ist. Der Namenlose hofft auf ein Billet für die „Arche“, das Schiff ins gelobte Land – Amerika!
Und er bekommt es. Nach einer Nacht ohne Schlaf in den Restaurants und Tavernen der Baixa. Erich Maria Remarque weiß, wovon er schreibt in seinem Roman Die Nacht von Lissabon, hat doch selbst Flucht und Emigration erlebt und erlitten.
Auch Raimund Gregorius, der Berner Gymnasiallehrer für Latein und Altgriechisch, sucht das Weite. Er ist auf der Flucht vor Langeweile und Alltag, in der grellen Morgenröte des 21. Jahrhunderts, sucht sich selbst am Südwestzipfel Europas. Nur bei der Einfahrt in den Bahnhof Santa Apolónia – der „breite Fluß draußen mußte bereits der Tejo sein“ – kommen ihm leise Zweifel. „Er wollte nicht, daß die Fahrt zu Ende ging“, lässt Pascal Mercier den Protagonisten seines Romans Nachtzug nach Lissabon denken. Was sollte Gregorius hier? Hier, wo das Meer endet – „und das Land beginnt.“
Wir wollen uns dorthin begeben, wo Raimund Gregorius einen vergessenen Schriftsteller sucht. Auch wir wollen suchen nach neuen Spuren und unbekannten Namen, die eine Stadt geprägt haben, an deren Ufern morgens „Möven aus anderen Tagen“ (Eugénio de Andrade) durch den Nebel jagen.
Wer eine Stadt „erlesen“ möchte, kann nicht ihre meisterhaften Chronisten aussparen. Es waren auch die großen Lissabon-Autoren, die auf den sanften Nebel über der Unterstadt, über den Schiffen auf dem azurblauen Wasser des Tejos blickten: José Saramago und Fernando Pessoa, der manchmal nachts, wenn er nicht schlafen konnte, auf „einer Art Innenseite meiner Lider, // nur Lissabon mit seinen Häusern // Ihrer Farbenvielfalt“ sah.
Und dann wollen wir unseren Blick richten auf die vielen „Anderen“. Manche von ihnen blieben nicht lange, wie Felix Krull, andere zogen von hier aus, woanders ihr Glück zu suchen. Einige kamen zurück, wie – wenngleich nur für kurze Zeit – Ricardo Reis, andere nicht, wie der todunglückliche Mário de Sá-Carneiro. Manchmal begeben wir uns, etwa mit dem in Deutschland gänzlich unbekannten Rafael Bordalo Pinheiro, auf absolutes Neuland.
Saramagos Das Todesjahr des Ricardo Reis endet mit einem Abschied – und mit einer Spiegelung. Wir sehen Fernando Pessoa und seinen Ziehsohn Ricardo Reis das Haus verlassen, auf einem Parkweg geraten sie uns aus den Augen. Ende: „Hier, wo das Meer endete und das Land wartet.“ Lissabon wartet auf uns. Machen wir uns also auf den Weg. Auf nach Lissabon!
In der nächsten Folge: Irgendein Fenster zur Straße: über Fernando Pessoas Buch der Unruhe
Super Idee! Welche Städte werden noch folgen?
jetzt wäre ich auch lieber in Lissabon, die Saudade ist allemal malerischer als die Bochumer Tristesse. Bei 20 Grad relativiert sich die Melancholie…
Geplant sind noch New York, Paris, London und Istanbul. Und bis auf New York wäre ich auch lieber an diesen Orten als in Bochum. Obwohl sich die Sonne heute Mühe gibt, dem vermatschten Herbstlaub ein wenig Zauber einzuhauchen. ^nh
Pingback: Irgendein Fenster zur Straße | literaturundfeuilleton