Wendelin Rentzsch-Tetzlaff, genannt Wendy, deutscher Immigrant, von Sexualangst und Anorgasmie geplagt, entdeckt die Kunst als Selbsttherapie. Über Jahrzehnte hinweg häuft er im Verborgenen die wohl größte Sammlung phallischer Avantgarde-Kunst an, die nun in Der phantastische Phallus, herausgegeben von Christoph Steinbrener und Thomas Mießgang, erstmals einer breiten Öffentlichkeit zugänglich wird. Die Entdeckung des Jahres!
von KATJA PAPIOREK
Volltrunken und Billy Joel – Songs trällernd, stolpert ein „illuminierter Obdachloser“ auf den Dachboden eines Bürogebäudes in der 25 North Sixth Street in Allentown, Pennsylvania, und steht plötzlich inmitten einer mehr als 100 Werke umfassenden Phallus-Sammlung. Zusammengetragen hat sie der 1944 aus Deutschland immigrierte Wendelin Rentzsch-Tetzlaff. Sexuell traumatisiert durch einen missglückten Raketenstart, findet er Erleichterung im obsessiven Sammeln von Kunstwerken unter dem Motto „Die Welt ist alles, was der Phall ist“. Sein engster Verbündeter ist der Kunsthändler Whitelaw Savory, dem es immer wieder gelingt, Werke bedeutender Avantgarde-Künstler aufzuspüren, die das männliche Genital ins Zentrum setzen. Doch ist ein Ankauf nur dann möglich, wenn sich Wendy verpflichtet, „die Werke der Öffentlichkeit zu entziehen und ihr voluptuöses Aroma in stiller, privater Kontemplation einzuatmen.“ Die Entdeckung dieser phantastischen Sammlung, darunter „surreal ejakulierende Monsterschwänze, konstruktivistisch-reduzierte Phallus-Geometrien, konzeptuelle Penis-Phantasmorgien“, fordert nun eine längst überfällige kunstgeschichtliche Würdigung ein und wird zweifellos zu einer Neubewertung avantgardistischer Strömungen führen.
Fettecken und Eisdildos
Erste Einblicke liefert der von Steinbrener und Mießgang zusammengestellte und kommentierte Katalog. Die 34 abgebildeten Werke stellen zwar nur einen Bruchteil der Sammlung dar, illustrieren aber bereits deren revolutionären Charakter. Es wird offenbart, was Dada ist („eine Handluftpumpe zur Selbstmassage des Penis“), dass „simultanonanistische Ejakulations-Springbrunnenspiele“ direkte Vorläufer des Simultangedichts sind, „was wirklich in der Fettecke war“ und dass das Pissoir wesentlichen Einfluss auf die bildende Kunst und die Literatur genommen hat: „Ein mittlerweile weithin vergessener französischer Schriftsteller soll dadurch sogar zu seinem Romanzyklus À la recherche de la verge perdue angeregt worden sein.“ Der Bildungsauftrag des Buches wird dabei weit über die Grenzen der Kunstwissenschaft hinaus erfüllt. So erfährt der Leser quasi nebenbei, dass es der 2 mm großen Micronecta, einer Wasserwanze, möglich ist, „mit ihrem Penis einen 99,2 Dezibel lauten Ton zu erzeugen und sich damit bei der Brautwerbung entscheidende Standortvorteile zu verschaffen“, und dass dringend vor dem Gebrauch zu kalter Eisdildos zu warnen ist.
Zwischen (Ent-)Täuschung und Entdeckung
Eine wahrlich „phantastische“ und „unglaubliche Geschichte“! – Und damit wären die ersten Fiktionalitätshinweise auch schon entlarvt. Der traumatisierte Wendy hat nie existiert, ebenso wenig seine Sammlung phallischer Kunst. Die abgebildeten Werke sind natürlich nicht von berühmten Künstlern wie Duchamp, Tzara, Pollock oder Dalí, sondern von Christoph Steinbrener. Dass sie dabei so nah an den bekannten Werken der genannten Künstler liegen, gehört ebenso zu den Beglaubigungsstrategien des Textes wie die angeblichen Fotografien des Sammlers. Mithilfe zahlreicher intermedialer Verweise wird hier die Geschichte der Avantgarde-Bewegungen zitiert und ironisch gebrochen. Dabei strapazieren die Autoren das gesamte Bild- und Wortfeld des Phallus. Das ist nicht nur großartige Unterhaltung, sondern auch Kritik am Kunsthandel und Abrechnung mit der Kunstgeschichte. So haben die Entwicklungen im Kunsthandel dazu geführt, dass unzählige Kunstwerke in Privatsammlungen der Öffentlichkeit verborgen bleiben. Selbst Kunsthistorikern bleibt der Zutritt verwehrt, sodass Forschung nur noch anhand von Reproduktionen und Kopien stattfinden kann. Gleichzeitig führt der inflationäre Gebrauch von Epochen- und Stilbegriffen zu einer Entleerung ihrer Bedeutung, was die Einordnung eines Werkes selbst für den interessierten Leser oder Betrachter mehr als erschwert.
Also keine Entdeckung? Doch. Das eigentliche Kunstwerk ist das Buch selbst. „Es ist wie die Begegnung eines Regenwurms mit einer Nähnadel in einem Heuhaufen.“
Christoph Steinbrener und Thomas Mießgang: Der phantastische Phallus. Die unglaubliche Geschichte von Wendelin Rentzsch-Tetzlaff und seiner Sammlung herausragender Avantgarde-Kunst
Rogner & Bernhard, 96 Seiten
Preis: 14,95 Euro
ISBN: 9783954030040
ach, jetzt weiß ich auch wieder, woher ich den hinweis habe.. amüsiere mich auch köstlich mit dem buch… danke!