Eine wunderbare, ergreifende, verzückende, atemraubende, erfüllende, zynische, schöne, wortgewandte, das ganze Buch und doch zu wenig umfassende Geschichte erwartete ich bei Julian Barnes Unbefugtes Betreten. Doch statt uns in EINER Geschichte (zusammen) zu halten, besteht Unbefugtes Betreten aus 14 Erzählungen. Fordern zu hohe Erwartungen zwangsläufig Enttäuschungen?
von SARAH HERHAUSEN
Mit Vom Ende einer Geschichte lieferte Julian Barnes im November des letzten Jahres eine Geschichte, die mehr als 130.000 Leser mitriss. Zu komplex, um in Worte gefasst zu werden, schaffte Barnes es, durch seine punktgenau treffenden Worte dem Gefühl so nahe zu kommen, wie sonst wenige.
In diesem Jahr distanziert er sich von seiner Romanform und liefert seinen Lesern einen Band aus 14 kurzen, teils Einzel- und teils Fortsetzungserzählungen.
Die Gedanken- und Gefühlspalette der Menschen
Seinem Stil bleibt Julian Barnes im neuen Buch gewiss treu: Er beschreibt Beziehungen zwischen Menschen, die viel reden, viel schweigen und viel falsch machen. Die alltägliche Komplexität und Schwierigkeit im Umgang mit anderen Menschen ist – wie in Vom Ende einer Geschichte auch schon – das Thema.
So erfahren wir in den vier Erzählungen „Bei Phil & Joanna“, die in Dialogen über die regelmäßigen Treffen einer Gruppe von guten Freunden erzählt werden, etwas über den Besuch beim Proktologen, die Vor- und Nachteile des Valentinstages, Plastikhoden, den Unterschied zwischen einer Allegorie und einer Metapher, dass England niemals dem Euro beitreten werde und sich durch seine Orangenmarmelade auszeichne:
„Als ich ein kleiner Junge war, hatten wir in der Küche so einen großen Geschirrschrank mit tiefen Schubladen unten drin, und einmal im Jahr waren die plötzlich voll Orangenmarmelade. Das war wie ein Wunder. Nie habe ich meine Mutter sie kochen sehen.“
Country Walking
Die Titelerzählung „Unbefugtes Betreten“ beinhaltet die Geschichte eines Mannes, der von seiner Partnerin verlassen wurde und nun mit dem Für und Wider eines Wandervereinsbeitritts hadert:
„Er sah auch den Rest vor sich: Das Vereinsblatt erhalten, die ‚Einladung an alle‘ studieren, […], am Vorabend die Schuhe putzen, ein zusätzliches Sandwich machen – wer weiß – , vielleicht auch noch eine zusätzliche Mandarine einstecken und dann (all seinen Warnungen an sich selbst zum Trotz) mit hoffnungsvollem Herzen zum Parkplatz fahren. Dann hieße es, die Wanderung überstehen, sich fröhlich verabschieden, nach Hause gehen und zu Abend das übrig gebliebene Sandwich und die Mandarine essen. Das wäre wirklich traurig.“
Julian Barnes gelingt es auch in diesem Buch, so feinfühlig die menschliche Palette von Gedanken und Gefühlen zu erfassen und wiederum in Worte zu fassen, dass es dieser anderen Form der in einem Buch gebündelten 14 Erzählungen kaum einen Abbruch tut. Ist man zu Beginn noch enttäuscht, nicht eine das ganze Buch und alle eigenen Gedanken einnehmende Geschichte zu lesen zu bekommen, wandelt sich dieses Gefühl alsbald. Denn die 14 Geschichten, die Barnes zu erzählen hat, können es mit einer einzelnen aufnehmen und sind vielleicht sogar 14-mal so gut.
Das liegt hier noch und wartet darauf, von Staub befreit und endlich gelesen zu werden. Eure Besprechung macht mir auf jeden Fall Lust! 🙂
Es ist ein wirklich schönes Buch, weil Barnes es immer wieder schafft, meine Gedanken beim Lesen in Wörter zu fassen. Aber, wie ja beschrieben, habe ich persönlich lieber eine Geschichte, der ich mich voll und ganz hingeben kann. 🙂 sh
Das kann ich sehr gut verstehen und muss hier mit gestehen, dass ich auch lieber eine ganze Geschichte lese und kein großer Fan von Kurzgeschichten bin. Wenn ich Kurzgeschichten lese, müssen mich diese schon sehr überzeugen, um mir zu gefallen … 🙂
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