Chronik des Wartens

Julia Schoch - Selbstporträt mit Bonaparte   Cover: PiperDie großen Katastrophen im Leben bleiben aus, der ehemals krisengebeutelte westliche Mensch hat sich durch Jahrhunderte voller Revolutionen, Kriege und Aufstände gequält, um am Ende das Schicksal nicht selbst in der Hand zu haben. Er ist frei zu wählen, er hat die Qual der Wahl – einzig am Roulettekessel treten die traurig freien Gestalten noch ihrem Schicksal gegenüber, so Julia Schoch in einem Essay (Literaturen #103 Okt/Nov 2011). In ihrem dritten Roman Selbstporträt mit Bonaparte lässt Schoch ihre namenlose Ich-Erzählerin ihrem Leben, ihrer Liebe und Leidenschaft zum Spiel – dem Schicksalsgaranten – nachspüren und versucht, Gegenwärtiges spothaft festzuhalten.

Von NADINE HEMGESBERG

Bonaparte ist weg. So unvermittelt wie er in das Leben der Erzählerin getreten ist, ist er auch wieder verschwunden. Auf einem Historiker-Kongress lernen sie sich kennen, statt konventioneller Balztaktiken und leicht in der Retrospektive zu romantisierenden Strategien geht es gleich um alles: „Wozu das Ganze?“, fragt er, den sie später nur noch Bonaparte nennen wird, bei ihrem Kennenlernen. Er besucht sie an der Ostsee, eine gemeinsame Nacht im Kasino bindet die beiden aneinander. Sie sind Spieler, fordern das Schicksal heraus, versuchen den Kessel, das Chaos – die einzige beständige Größe, so scheint es – zu bezwingen. In ihrem Mantel haben sich seither 600 Eintrittskarten für Kasinos gesammelt, stumme Zeugen einer Leidenschaft. Ihre Affäre bleibt über die Jahre unverbindlich, jeder Auftritt von Bonaparte scheint eine Inszenierung. Ihre Begegnungen bilden nur eine Seite einer Medaille: das Leben aufgeteilt in ein Hier und Dort. Julia Schoch konstruiert ihre Ich-Erzählerin wie ein Negativ, das es zu entwickeln gilt. „In diesem Fall allerdings, im Fall der Kasino-Eintrittskarten, habe ich seit Längerem tatsächlich den Eindruck, in ihnen offenbart sich meine wirkliche Existenz“, konstatiert diese. Die Eckpunkte dieser Biografie lassen sich schnell zusammensammeln, das Offensichtliche tritt zu Tage. Verbindungen lassen sich erkennen und eine Konsistenz formen – ist es so einfach?

Zeitlose Orte, ortlose Zeit

Ist es eben nicht. Das Leben wird zum Narrativ, mal von anderen, mal von einem selbst geformt. Hier eine Auslassung, dort eine Überspitzung, eine Raffung, die alles in einem anderen Licht dastehen lässt. So erschreibt sich die Namenlose ihr Warten auf Bonaparte, lässt ihr erzählerisches Ich zur Chronistin werden, die spothaft Erlebnisse und Orte aneinanderreiht. Denn das liebende Korrektiv, Bonaparte, ist nicht mehr da: „Vielleicht ist der einzige Grund für die Liebe heutzutage tatsächlich der, dass man ein gleichartiges Geschöpf braucht, um seine Vergangenheit, also sich selbst, nicht zur Erfindung werden zu lassen.“ In dieser Erzählung verschwimmen Orte, verschwimmt die Zeit. Ob nun etwas zum ersten oder hundertsten Mal passiert oder gemacht wurde, kann die Erzählerin nicht sagen. Nur das Kasino, es ist zeitlos. Mit all seinen Wiederholungen, dem ewig gleichen Rhythmus des Kessels – die Kugel rollt stetig, doch unberechenbar, ob die Stammgäste nun da sind oder nicht. „Mit ihren überschaubaren Regeln, den uhren- und also zeitlosen Interieurs, ihren samtenen Abpolsterungen gegen das Draußen sind sie die sichersten Orte der Welt.“ Der inwändige Ort scheint sicher, nicht so das Stadtbild. Ehemalige Trümmerlandschaften werden wieder aufgebaut, um nach Jahrzehnten in einer Welle des Rückbaus wieder ausgegraben und historisch korrekt erneut hochgezogen zu werden. Bei ihrer schriftstellerischen Arbeit begegnen der Erzählerin ehemalige Kriegsorte, Fotografien dieser Orte, die nunmehr nur ein Landstrich sind, in denen sie aber das Negativ zur historischen Erzählung erkennt. Ein Negativ also, das es, ähnlich ihrer eigenen Identität, zu entwickeln gilt.

Kein Roman

Ja, Julia Schoch ist eine leise, stilsichere Erzählung geglückt. Eine Ansammlung von fast Anekdotischem, Aphoristischem, das beim ersten Lesen aber auch langweilen kann. Und so ist das Versammelte zwischen zwei Buchdeckeln vielleicht mehr eine Meditation über die Zeit, das Spiel und die Liebe, ein dicker Essay, wie Andreas Becker im Spiegel diesen Roman nennt. Ein kurzweiliges, noch zu belichtendes Porträt, das zur zweiten Betrachtung, zum zweiten Lesen einlädt und drängt.

Julia Schoch: Selbstporträt mit Bonaparte
Piper 2012, 142 Seiten
Preis: 16,99 Euro
ISBN: 978-3-492-05547-5

3 Gedanken zu „Chronik des Wartens

  1. Das klingt sehr spannend und eigentlich ganz so, als könnte das Buch meinen Geschmack treffen. 🙂 Leider habe ich Julia Schoch mal vor einigen Jahren auf einer Lesung erlebt, wo sie mir höchst unsympathisch war – seitdem fällt es mir schwer, ein Buch von ihr in die Hand zu nehmen, auch wenn es ja eigentlich doof ist, sich aufgrund einer solchen persönlichen Abneigung ein gutes Buch durch die Lappen gehen zu lassen … 🙂

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