1755 bebte die Erde im Westen der iberischen Halbinsel. Zehntausende Menschen verloren ihr Leben bei einer der verheerendsten Naturkatastrophen der Neuzeit. Die prachtvolle Hauptstadt Lissabon wurde fast völlig zerstört. Eine literarische Spurensuche. Lissabon erlesen, fünfte Folge.
Von PHILIPP KAMPSCHROER
Settembrini echauffiert sich. Schon wieder kann Hans Castorp nicht folgen und rechtfertigt sich: Er habe seit Langem keine Zeitung mehr gelesen und könne folglich nichts von diesem Erdbeben mitbekommen haben. Settembrini schließt die Augen und schüttelt seine „kleine braune Hand in der Luft“. Er rede doch nicht von einem aktuellen Ereignis, sondern von der „Erschütterung, die Lissabon heimsuchte, im Jahre 1755“, sogar Voltaire habe sich deswegen empört und protestiert „im Namen des Geistes und der Vernunft gegen diesen skandalösen Unfug der Natur, dem drei Viertel einer blühenden Stadt und Tausende von Menschenleben zum Opfer fielen…“
Settembrini, der weise alte Mann in Thomas Manns Roman Der Zauberberg (1924), und sein Zögling, der Ingenieur Hans Castorp, streiten sich. Der Meister ist entsetzt, dass sein Schüler nicht von diesem Ereignis gehört hat, das im Jahre 1755 Lissabon verwüstete – und die gelehrte Welt auf den Kopf stellte.
Dem Beben folgt ein Tsunami
Bis heute können Geologen nicht eindeutig feststellen, was genau am 1. November 1755 das Beben auslöste, das die portugiesische Atlantik-Küste und Lissabon niederwalzte. Kurz vor 10 Uhr am Morgen beginnt das Grauen: Ein Erdbeben der Stärke 8,5 bis 9 auf der Richterskala legt die dicht bebaute Altstadt Lissabons in Schutt und Asche, die überlebenden Bewohner flüchten in den Hafen, das Wasser dort hat sich weit zurückgezogen. Niemand ahnt, dass dies der Vorbote für eine noch größere Katastrophe ist. Denn nur Minuten nach der ersten Erschütterung rollt eine riesige Flutwelle den Tejo hinunter und erfasst die Menschen am Ufer. Bis zu 100 000 Bewohner fallen dem Beben, dem Tsunami und dem anschließenden Großbrand zum Opfer. Nur die Alfama, der älteste Teil der Hauptstadt, und das Bairro Alto, die Oberstadt, bleiben weitestgehend verschont.
„Mein Bruder Hans war nach Lissabon gereist, um dort Ruhe zu suchen“ – „und das brachte ihn ins Unglück“
Es ist eine Katastrophe von bisher unbekanntem Ausmaß, die am restlichen Kontinent – ganz abgesehen von den bis Mitteleuropa zu spürenden kleineren Beben – nicht spurlos vorbei geht. Leibniz’ Philosophie von dem gerechten Gott und der besten aller möglichen Welten, in der die Menschen lebten, scheint nicht mehr tragfähig. Voltaire persifliert in seinem Roman Candide ou l‘optimisme (1759) seine Theorien. Denis Diderot lässt seinen Anti-Helden Jacques in Jacques le fataliste et son maître (ca. 1765-1784) eine traurige Geschichte von seinem Bruder erzählen: „Mein Bruder Hans war nach Lissabon gereist, um dort Ruhe zu suchen. Er war ein Bursche, der Geist hatte; und das brachte ihn ins Unglück. Es würde besser für ihn gewesen sein, wenn er ein Dummkopf gewesen wäre, wie ich; aber so stand es nun einmal dort oben geschrieben.“ Diderot verspottet damit auch diejenigen Kritiker, die ihm den Vorwurf der Gottlosigkeit eingebracht haben.
Nach der Zerstörung wurde Lissabon im Schachbrettmuster wiederaufgebaut
Lissabon war, als es 1755 heimgesucht wurde, eine florierende Handelsstadt und Mittelpunkt des portugiesischen Kolonialreiches. Rasch wurden Wiederaufbaupläne entworfen, die verwüstete Unterstadt wurde schachbrettartig konstruiert. Dem verantwortlichen Minister, dem Marquês de Pombal, setzte man 1934 ein monumentales Denkmal. Tatsächlich gelangte Lissabon nach dem Erdbeben aber nie wieder zu alter Größe; auch Portugals wirtschaftlichen Abstieg, der schon vorher eingesetzt hatte, besiegelte die Katastrophe. Der einstige Glanz der Weltmacht ging gewissermaßen mit der Stadt unter, die noch um 1700 zu den größten Europas gezählt hatte. „Die Zerstörung von Lissabon“, so beschrieb es Walter Benjamin 1931, „das war damals so, als würde man heute sagen, die Zerstörung von Chicago oder von London“.
Thomas Mann: Der Zauberberg. In der Fassung der Großen kommentierten Frankfurter Ausgabe
Fischer Taschenbuch Verlag, 1120 Seiten
Preis: 13,00 Euro
ISBN: 978-3596904167
Voltaire: Candide: oder der Optimismus
Marixverlag, 160 Seiten
Preis: 5 Euro
ISBN: 978-3865392695
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