In Francesca Segals Debütroman Die Arglosen (The Innocents, 2012) werden wir mitten in die Verstrickungen, Traditionen und Dynamiken einer großen, lauten und liebenswerten jüdischen Familie befördert. Eine spannungsgeladene Dreiecksbeziehung bildet die Basis für Segals Roman, doch das eigentlich Fesselnde ist die sich entfaltende Familiengeschichte.
von KATHARINA WINTER
In einer jüdischen Gemeinde in Nordwest-London planen die Protagonisten Adam und Rachel gemeinsam mit ihrer Familie ihre bevorstehende Hochzeit. Während die Beziehung der beiden zunächst harmonisch und liebevoll erscheint, gerät ihr Leben durch das wiederholte Auftauchen von Rachels Cousine Ellie immer weiter aus der Bahn. Adam ist von der unangepasst lebenden Ellie fasziniert. Gerade ihr unbedarfter Umgang mit bewusstseinserweiternden Substanzen und ihre großzügigen Moralvorstellungen, die seinen komplett entgegenstehen, wirken auf ihn betörend und abstoßend zugleich. Immer wieder muss er feststellen, wie engstirnig die Kategorien sind, in denen er denkt. Doch nach einer kurzen Affäre zwischen den beiden, die dafür sorgt, dass Adam mit dem Gedanken spielt Rachel zu verlassen, entscheidet die Gemeinschaft der Familie, dass dem ein Ende bereitet werden muss und schickt Ellie zurück in die USA.
Die Gegenspielerinnen
Rachels Leben ist harmonisch verlaufen, als einziges Kind ihrer Eltern wurde sie verwöhnt und hatte immer Menschen um sich, die sich um sie sorgten. Ellies Leben hingegen war von Schicksalsschlägen gezeichnet. Ihre Mutter kam bei einer Explosion ums Leben und ihr Vater wandert mit ihr nach New York aus und kümmerte sich dort wenig um seine Tochter. Daher suchte sich Ellie andere Menschen, häufig ältere Männer, die sich um sie kümmerten und spielte in fragwürdigen Filmen mit. Ellie und Rachel werden somit als Konterparts entworfen, in deren Mitte Adam steht.
Es ist besonders Ellies offensichtliche Weigerung sich dafür zu schämen, wie sie ihr Leben gestaltet, die der heimischen, jüdischen Gemeinde und besonders ihrer eigenen Familie missfällt.
Die positive Kehrseite von ständiger Einmischung ist bedingungslose Unterstützung
Die Familien des Paares mischen sich mit vermeintlich liebevoller Fürsorge ungeniert in sämtliche Bereiche des Lebens ein. Als Leser werden wir gleich zu Beginn unmittelbar mit der Familiengeschichte in all ihrer Fülle konfrontiert. Die Namen der Familie werden uns ohne Einleitung samt ihrer Gerüchte und Geschichten um die Ohren gehauen. Während die Dreiecksbeziehung den Roman dominiert, sind es doch die Atmosphäre und die Figuren, die diesen Roman lesenswert und amüsant machen. Besonders Rachels Großmutter Ziva sorgt für erheiternde Momente.
„Ich gehe nirgendwohin, sondern lasse mich abholen“, erklärte Ziva und setzte sich auf eine niedrige Ziegelmauer. „Ich bin eine alte Dame und gehe bestimmt nicht zu Fuß nach Hause. Es steht nirgendwo geschrieben, dass ich das muss. Ich bin achtundachtzig und gebrechlich. Pikuach nefesch. Ich habe bereits heute Morgen bei Addison Lee angerufen, und Ellie fährt auch mit.“ „Du und gebrechlich? Eise meschuggas? At lo chola, Ima!“ „Scha, schtil“, entgegnete Ziva und wischte den Protest ihrer Tochter mit einer herablassenden Handbewegung beiseite. In diesem Moment hielt ein schwarzer Volkswagen am Straßenrand, und Ziva sprang behände auf die Füße und stieg ein, bevor Jaffa (Rachels Mutter und Zivas Tochter) sie davon abhalten konnte. (Die Arglosen, S. 21f.)
Der eigenwillige Humor des Romans zeigt sich besonders an den Stellen, an denen neben der Liebes- und Familienthematik auch ernstere Themen angeschnitten werden. Rachels Oma Ziva, die in ihrer Jugend in Österreich gelebt hat, wurde nach Bergen-Belsen deportiert. Besonders das Hungern scheint Zivas Leben geprägt zu haben, da sie überall wo sie auf Besuch ist dargebotene Süßigkeiten in ihre Handtasche füllt und wenn die Tasche voll ist, die Bonbons auf Tellerchen in ihrem ganzen Haus verteilt, obwohl sie sie niemals anrührt.
Entweder isst Ziva in einem Zentrum für Holocaustüberlebende oder sie bestellt beim indischen Lieferservice. An Jom Kippur jedoch, wenn die jüdische Gemeinde in ihrer Gänze fastet, beginnt Ziva mit Wonne zu backen und zu essen, denn „sie habe in ihrem Leben schon mehr als genug gehungert“. Nichts desto trotz ist Ziva eine gläubige Jüdin, die es nur nicht so eng sieht mit einigen Traditionen.
Happy End?
Segals Debüt ist thematisch klar im Genre des Liebesromans zu verorten und wären es allein diese Thematik, die für dieses Werk ausschlaggebend wäre, so handelte es sich bei Die Arglosen um eine Strandlektüre unter vielen.
Gen Ende, wenn Adam sich zwischen Ellie und Rachel, zwischen Konvention und Abenteuer entscheiden müsste, wird ihm diese Wahl unerwartet abgenommen.
Segals Roman lädt häufig zum Schmunzeln und Lachen ein, aber nicht ohne gleichzeitig Denkanstöße zu geben, die eigenen Vorurteile und Wertvorstellungen zu hinterfragen sowie über all diejenigen nachzudenken, die ihnen nicht genügen können und es möglicherweise, wie Ellie, auch ganz einfach nicht wollen.