Die Unvollendete: Irmgard Keun

Quelle: User OTFW Wikimedia

Quelle: User OTFW Wikimedia

Verglichen mit anderen deutschen Exilautoren ist Irmgard Keun eine ambivalente, schwierig zu fassende Persönlichkeit: ein Star in der Weimarer Republik, im Exil mit literarischen Größen wie Stefan Zweig und Egon Erwin Kisch bekannt, Geliebte von Joseph Roth – und doch über weite Strecken als zwar talentierte, aber harmlose Unterhaltungsschriftstellerin abgetan.

von LINA BRÜNIG

Ihr Leben lang vermischte sie in Interviews Dichtung und Wahrheit und verwirrte die Zeitgenossen durch wechselnde Angaben zu ihrer Biographie. Als 1931 ihr erster Roman Gilgi – eine von uns erschien und sofort ein kommerzieller Erfolg wurde, machte sie sich fünf Jahre jünger – um zu suggerieren, dass Autorin und Protagonistin im selben Alter wären. In Wahrheit wurde Keun am 6. Februar 1905 in Berlin geboren, wo sie die ersten acht Jahre ihres Lebens verbrachte, bevor die Familie nach Köln zog. Sie besuchte ein Lyzeum, arbeitete danach im Betrieb ihres Vaters, später als Stenotypistin, um danach im Jahr 1925 am Kölner Schauspielhaus eine Ausbildung zur Schauspielerin zu beginnen. Erste Engagements führten sie nach Hamburg und Greifswald, bevor sie 1929 zu den Eltern zurückkehrte und dort an ihrem ersten Roman arbeitete. Nachdem dieser ein überraschender Erfolg wurde, folgte schon 1932 ihre zweite Publikation Das kunstseidene Mädchen. Das unsichere Lebensgefühl in der späten Weimarer Republik wird von Keun hier derart plastisch eingefangen, dass diese eigentliche Stärke des Textes von konservativen Rezensenten als Gefahr für Leserinnen wahrgenommen wurde: Der Roman könne junge Mädchen zu einem unsteten Lebenswandel animieren, er präsentiere zudem für drängende Probleme keine Lösungsvorschläge. Auch der Verlag kündigte den Text als Zeitkritik an: „Amüsant und kurzweilig, aber er verbirgt nicht, wie traurig im Grunde dieses für unsere Zeit so charakteristische Schicksal ist.“ (Häntzschel 2001, S. 37) Diese Eigenschaft von Keuns Literatur war es auch, die ab 1933 zur Beschlagnahmung und zum Verbot ihrer Bücher führte. Unter den nationalsozialistischen Machthabern waren Texte, in denen die Gegenwart humorvoll-satirisch kritisiert wird, nicht mehr erwünscht. Keuns Bücher wurden als „Asphaltliteratur mit antideutscher Tendenz“ (Häntzschel 2001, S. 48) eingestuft, die „häßliche Angriffe gegen die bürgerliche Moral und das Deutschtum“ (ebd.) enthalte. Irmgard Keun ist somit eine derjenigen Schriftstellerinnen, deren Werk im „Dritten Reich verboten wurden „allein wegen dem, was sie schrieb und wie sie schrieb.“ (Ziegler 2010, S. 49)

 Letzte Veröffentlichung vor 1933: Das kunstseidene Mädchen

Der von den Nationalsozialisten beanstandete Roman Das kunstseidene Mädchen ist ein Zeitroman. Vorgeblich handelt es sich um die literarisch ambitionierten Aufzeichnungen der jungen Büroangestellten Doris, die ihre Erlebnisse mit dem Anspruch festhält, „wie Film“ (Keun 2012, S. 8) zu schreiben. Doris teilt einige biografische Gemeinsamkeiten mit der Autorin Keun, ist jedoch nicht mit ihr zu identifizieren. Zu Beginn des Textes ist Doris Sekretärin eines Anwalts, kündigt dort, landet am Theater und geht nach Berlin, um dort „ein Glanz“ (Keun 2012, S. 45) zu werden. Doch die große Stadt hat nicht auf sie gewartet, sodass sie sich mit Gelegenheitsarbeiten und Betteln durchschlägt und am Ende dazu bereit ist, sich zu prostituieren. Der Mann, der sie mit nach Hause nimmt, will jedoch nur jemanden um sich haben, weil seine Frau – die er noch immer liebt – ihn verlassen hat. Doris wohnt für einige Zeit bei ihm, gibt ihm sogar ihr Schreibheft zu lesen und entwickelt Gefühle für ihn. Aber dann möchte die Ehefrau zu ihrem Mann zurückkehren und Doris ist wieder allein.

Keun hat Doris als ungebildete, aber schlaue Figur angelegt, die unter ihrer fehlenden Bildung leidet und keinen Zugang zu höheren Kreisen findet. Keun lässt ihre Figur stakkatohaft, plastisch und häufig sehr witzig schreiben und verschießt dabei viele satirische Pfeile, von denen die meisten ihr Ziel treffen. Besonders Doris’ Feststellungen bezüglich Liebe, Sex und Geschlechterunterschieden zeigen die ausgeprägte Beobachtungsgabe der Autorin. Doris’ Unbedarftheit und ihre gleichzeitig vorhandene Erfahrung mit Männern bilden dabei nur scheinbar einen Widerspruch. Doris ist eine Art Narrenfigur, die sich nicht scheut, die oftmals bittere Wahrheit auszusprechen. Daher trifft Kurt Tucholskys gönnerhafter Lobesruf „Eine schreibende Frau mit Humor, sieh mal einer an!“ (Tucholsky, S. 180) auch nicht den Kern von Keuns Können. Es scheint, als seien viele zeitgenössische Rezensenten dem schnoddrigen, plappernden Tonfall der Figur Doris auf den Leim gegangen, ohne zu erkennen, dass sich in diesem Text viel mehr verbirgt als naive Mädchenphantasien. Aber auch im Erscheinungsjahr des Romans gab es bereits Besprechungen mit klarem Blick. So lautete ein Urteil in Die literarische Welt vom 29. Juli 1932: „Eine Dichterin, deren Einfühlungskraft so überzeugend ist, daß die Illusion der Lebensechtheit dieser Aufzeichnungen immer gewahrt bleibt, kann verlangen, daß die Selbständigkeit ihrer Leistung auch von einer unerbittlichen Literaturkritik anerkannt wird.“

In einer besonders gelungenen Passage führt Doris ihren im Krieg erblindeten Nachbarn durch das nächtliche Berlin und beschreibt ihm in atemlosem Duktus, was sie sieht: „manchmal kommt jetzt ein halber Stern – aber doch nichts gegen die Reklame – und um uns Gesause, ich mache mal einen Augenblick meine Augen zu an der Haltestelle vom Omnibus – wie das alles in einen dringt – so viel Lautes – er wird immer stiller – gehn wir ins Vaterland, da muß doch einer wach werden.“ (Keun 2012, S. 115) Dieser Roman hat Berlin mit allem Schmutz und aller Schönheit konserviert. Nur einen Wimpernschlag, bevor sich erst die politische und gesellschaftliche Situation änderte und es wenige Jahre danach zu großen Teilen in Schutt und Asche lag. Es ist schön, dass es auch gut achtzig Jahre später noch möglich ist, das Lebensgefühl dieser Zeit nachempfinden zu können. In dieser Hinsicht steht Das kunstseidene Mädchen in einer Reihe mit Döblins Berlin Alexanderplatz und Kästners Fabian.

Exil, Vergessen und Wiederentdeckung

Irmgard Keun wurde nicht in die Reichsschrifttumskammer aufgenommen, sodass ihr als einzige Möglichkeit, weiter zu publizieren, nur der Weg ins Exil blieb. Sie lebte zunächst in Belgien und konnte 1936 im Querido Verlag Nach Mitternacht veröffentlichen – einen Roman, der deutliche Kritik am NS-Deutschland übt. Im Exil lernte sie den österreichischen Schriftsteller Joseph Roth kennen, mit dem sie eineinhalb Jahre zusammenblieb. Roth war zum Zeitpunkt ihres Kennenlernens schon schwer alkoholkrank und starb bald nach der Trennung 1939 in Paris. Auch Irmgard Keun flüchtete in dieser Zeit zunehmend in den Alkoholrausch. 1940 wurde die Nachricht verbreitet, sie habe Selbstmord begangen. Diese Gelegenheit nutzte sie, um mit falschen Papieren nach Deutschland (genauer: zu den Eltern) zurückzukehren. Nach Kriegsende lebte sie einige Zeit im ausgebombten Elternhaus und fand in der Nachkriegsgesellschaft keinen rechten Platz mehr. Zwar schrieb sie zunächst Kabarettprogramme für den NWDR und veröffentlichte noch einen Roman und mehrere Bände mit Geschichten und Gedichten, geriet aber in der jungen Bundesrepublik, die nach vorn schauen wollte, in Vergessenheit. Erst Ende der Siebzigerjahre setzte eine Phase der Wiederentdeckung ein, die bis zu ihrem Tod 1982 dauerte. Keun stand somit noch einmal für drei Jahre im Fokus der interessierten Öffentlichkeit, und ihre Bücher wurden neu aufgelegt. Diese biographische Symmetrie wirkt beinahe wie eine geplante Dramaturgie, obwohl es das wahre Schicksal einer begabten Frau ist: Eine junge Schriftstellerin lebt zu Beginn ihrer Karriere drei Jahre im Rampenlicht und wird hofiert – bis neue Machthaber diesen Weg abschneiden. Sie verliert sich, wird vergessen. Und in den letzten drei Jahren ihres Lebens wird sie plötzlich wieder als Künstlerin anerkannt. Wie Interviews mit ihr aus dieser Zeit zu entnehmen ist, kam die Wiederentdeckung für sie zu spät. Oder, wie Ursula Krechel es 1979 in der FAZ formulierte: „Der Schmerz, nicht teilzuhaben am männlich bestimmten Lauf der Welt, bügelt sich nicht so leicht weg.“

Literatur

Arend, Stefanie und Ariane Martin (Hg.): Irmgard Keun. 1905/2005. Deutungen und Dokumente. Bielefeld: Aisthesis Verlag 2005.

Beutel, Heike und Anna Barbara Hagin (Hg.): Irmgard Keun. Zeitzeugen, Bilder und Dokumente erzählen. Köln: Emons Verlag 1995.

Häntzschel, Hiltrud: Irmgard Keun. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag 2001.

Keun, Irmgard. Das kunstseidene Mädchen. Berlin: List Taschenbuch Verlag, 2012.

Krechel, Ursula: Geistig obdachlos. Wiederzuentdecken: Irmgard Keuns Roman Das kunstseidene Mädchen. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung: 10.04.1979

Kreis, Gabriele: Was man glaubt, gibt es. Das Leben der Irmgard Keun. Zürich: Heyne Verlag 1991.

Tucholsky, Kurt: Auf dem Nachttisch von Peter Panter. In: Die Weltbühne. Begründet von Siegfried Jacobson. Geleitet von Carl von Ossietzky. 28. Jahrgang. Erstes Halbjahr 1932. Verlag der Weltbühne.

Ziegler, Edda: Verboten – verfemt – vertrieben. Schriftstellerinnen im Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Revidierte und erweiterte Neuausgabe. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 2010.

3 Gedanken zu „Die Unvollendete: Irmgard Keun

  1. Pingback: Nicht überflüssig | literaturundfeuilleton

  2. Pingback: Irmgard Keun: Schreiben im Exil (1947). Und das Leben in Ostende. | Sätze&Schätze

Kommentar verfassen