Man hält Chaim Soutine für den unglücklichsten Maler von Montparnasse. Sein Leben ist geprägt von Schmerzen und Farben. Für ihn bedeuten sie ein und dasselbe. Ralph Dutlis Roman Soutines letzte Fahrt zeichnet ein wirres Portrait des Malers und lässt den Leser auf der Fahrt mit einem Leichenwagen in die Bilder seiner Fieberträume eintauchen. Ein Roman, der so schillernd ist wie Soutines Gemälde selbst.
von LARA THEOBALT
Soutine geht mit dem Messer auf seine Bilder los, verbrennt sie, bezeichnet sich als ihr Mörder. Wie das Magengeschwür, an dem er Jahrzehnte lang leidet, produziert er etwas, das ihn langsam umbringt. Seine Landschaften sind verzerrt, junge Modelle altern auf seiner Leinwand zu Greisen, immer wieder scheitert der Maler daran, den Tod in einem Motiv des Rindergerippes oder toten Fasans festzuhalten. Jedes neue Werk verlangt dem Künstler alles ab, die Scham, seinen Modellen nicht gerecht zu werden, verzehrt ihn. Er versteckt sich und seine Bilder vor den Augen der Betrachter.
Flucht in die Farbe
Seit seiner Kindheit arbeiten Schmerzen und Farben Hand in Hand. Im weißrussischen Shtetl ist ihm das Malen unter Strafandrohung verboten. Als junger Mann geht er nach Minsk, um Kunst zu studieren, und flüchtet so vor dem Malverbot sowie vor den Pogromen der Kosaken. Sein Ziel jedoch ist Paris. 1913 zieht Paris Künstler magnetisch an. Montparnasse wird zum Bienenstock, einem Tummelplatz der Maler, Galeristen und Lebenskünstler. Schon bald verkehrt Soutine in den Cafés, lernt Picasso, Chagall und Modigliani kennen. Und dennoch bleibt er ein Sonderling, lebt verarmt und verdreckt, schiebt sein Unglück zwischen sich und die Welt. Die Entdeckung seiner Werke durch einen amerikanischen Kunstsammler, Soutines plötzlicher Erfolg, ändert nichts an seiner Außenseiterrolle. Der Maler sieht sich „am Rand der Mitte der Welt“, bleibt stummer Betrachter. Was er mit ansehen muss, ändert stetig sein Gesicht, bleibt jedoch das gleiche Unglück. Aus den Kosaken der Kindheit werden 1940 die deutschen Besetzer. Paris entblößt sich als wahre Hauptstadt des Schmerzes. Als seine Gefährtin deportiert wird, bleiben die Schuldgefühle. Der jüdische Maler taucht ab in ein nahegelegenes Bauerndorf, zieht sich weiter zurück in seine Unsichtbarkeit und in eine Beziehung mit der unglücklichen Marie-Berthe Aurenche. Die einstmalige Muse der Surrealisten begleitet Soutine auf seiner letzten Fahrt.
Fahrt im Leichenwagen
Als sein Magengeschwür eine sofortige Operation unabdingbar macht, fährt das Paar versteckt nach Paris. Verborgen vor den Augen der Besatzer zieht sich die Fahrt schier endlos in die Länge. Der Leichenwagen fährt zu langsam, die Bilder aus Soutines Leben holen ihn ein. So wie man eine Leinwand zerstören kann, lassen sich Erinnerungen nicht auslöschen. Umnebelt von Morphium vermengen sich Realität und Fiktion.
Ein Leben ist immer mehr als die Summe der Erinnerungen, ist Dutlis Roman zu entnehmen und erschafft dabei Bilder, die in ihrer Intensität vom Maler selbst stammen könnten. Die Biographie des Künstlers Chaim Soutine, der von 1893-1943 lebte und dessen wenige – nicht durch eigene Hand zerstörten – Werke heute internationalen Ruhm genießen, wird zum Rahmen einer Fiktion und zum Anlass für die Suche nach der Bedeutung des Schmerzes für die Kunst. Dutli versucht, jenseits der realen Lebensdaten, den Menschen Soutine aufzuspüren. Er verzichtet auf jegliche Chronologie und dringt tief in Soutines Bildwelt ein, lässt Erlebtes und Gemaltes gleichermaßen als fiebrige Erinnerung aufflimmern. So nah Dutli dem Künstler auf diese Weise zu kommen scheint, so sehr stellt der Roman diese Annäherung infrage. Der Autor will Soutine, der für sein beharrliches Schweigen bekannt war, nichts in den Mund legen, wählt explizit nicht den inneren Monolog als Erzählperspektive. Der Roman schildert ein mögliches Leben unter vielen. So bleibt Soutine auch für den Leser ein Außenseiter. Der Unsichtbare lässt sich nicht ganz aufspüren.
Weißes Paradies
Wenn Farben Schmerz bedeuten, verwundert es nicht, dass es Soutine am Ende seines Lebens in ein weißes Nichts zieht – eine Klinik?, das Paradies? An dem geheimnisvollen Ort ist Soutine geheilt: geheilt von den ewigen Schmerzen, den Schuldgefühlen, der Erinnerung. Weiß bedeutet Heilung, Vergessen, Unendlichkeit. So könnte der Roman enden, Soutine jedoch entdeckt die Farben wieder. Der Schmerz kehrt zurück, bleibt heimlicher Verbündeter des Künstlers. Als ein Malerkollege Soutine einmal fragt, warum er immer so unglücklich sei, lacht dieser, er sei in seinem Leben immer sehr glücklich gewesen. Vielleicht ist es die Fähigkeit, mit seinem Schmerz die schillerndsten Gemälde zu malen, die Soutine nicht nur innerhalb des Romans zu einer Ausnahmefigur macht.
Die Geschichte des selbstzerstörerischen Malers ist längst zum Topos avanciert und dennoch ist Dutli genau damit ein außergewöhnlicher Roman gelungen, der nicht zuletzt durch seine Sprache überzeugt. Die verwendeten Bilder sind unverbraucht, gehorchen bald einer ganz eigenen Logik. So begegnen dem Leser nur in wenigen Passagen die üblichen Formeln des Künstlerromans. Vieles im Text erschließt sich nicht von Beginn an, was den Leser zunächst fordert, zum Weiterlesen drängt. Wer sich auf den wirren Rundgang durch Soutines Bilder- und Lebenswelt einlässt, kann nicht nur für dessen Kunst neue Blickwinkel entdecken. Insgesamt ein preisverdächtiges Werk.
Ralph Dutli: Soutines letzte Fahrt
Wallstein Verlag, 270 Seiten
Preis: 19,90 Euro
ISBN: 978-3-8353-1208-1
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