Die Hoffnung stirbt zuletzt

Gedenktafel Else Lasker-Schülers in Berlin Quelle: User OTFW WikimediaMit einer schauerlichen Geschichte, vorgetragen an einem Weihnachtsabend, beginnt die 1932 im Rowohlt Verlag erschienene Erzählung Arthur Aronymus von Else Lasker-Schüler. Hierin erzählt sie nicht nur von der Verfolgung und Diskriminierung der Juden, sondern auch von der Möglichkeit der Versöhnung.

von ESRA CANPALAT

Der Vater des jungen Arthur Aronymus erzählt seinen dreiundzwanzig Kindern, wie sich in seiner Jugendzeit am Heiligen Abend „[…] das blutige Pogrom abspielte“ (Arthur Aronymus. S. 8):

An den geschmückten Zweigen der hohen Tannenbäume im Rathaussaale, in der Aula der Schulen, hatte man kleine Judenkinder wie Konfekt aufgehängt. Zarte Händchen und blutbespritzte Füßchen lagen, verfallenes und totes Laub, auf den Gassen des Ghettos umher, wo man den damaligen Juden gestattete, sich niederzulassen. Entblößte Körper, sie eindringlicher mißhandeln zu können, bluteten zerrissen auf Splittern der Fenstergläser gespießt, unbeachtet unter kaltem Himmel. (Arthur Aronymus. S. 8f.)

Es ist, als habe die Autorin die nach 1932 kommenden Ereignisse in dieser Erzählung antizipiert, als habe sie geahnt, dass sich dieses Pogrom wiederholen würde.

Der schwarze Schwan Israels

Die 1869 in Elberfeld/Wuppertal als Else Schüler geborene Autorin bekommt mithilfe des Dichters Peter Hille Eintritt in die literarische Szene Berlins. 1902 erscheint Lasker- Schülers erster Gedichtband Styx, der „[…] [t]hematisch deutlich beeinflusst vom Lebens- und Körperkult der Jahrhundertwende […]“ (Neumann 2009: Sp. 665) ist. Bereits in diesem frühen lyrischen Werk beginnt Lasker-Schüler mit der Verklärung ihrer eigenen Familie, die später auch in Arthur Aronymus ihren Niederschlag findet. Auch alttestamentarische und jüdische Themen sind teilweise in ihren frühen Gedichten wiederzufinden (Das Lied des Gesalbten, Sulamith). Hille bezeichnet sie schon früh als den „[…] schwarze[n] Schwan Israels, eine Sappho, der die Welt entzwei gegangen ist […]“ (Pollmann 1982: Sp. 652). Auch in ihrem 1905 erschienenen zweiten Lyrikband finden sich Gedichte wieder, die sich Bildern aus der jüdischen Religion bedienen. Im Gegensatz zu den düsteren Gedichten in Styx, mit Themen wie Angst und Sehnsucht, strahlen die Gedichte in Der siebente Tag ein neues Selbstbewusstsein und Weltverständnis aus. Lasker-Schüler wird stark von Hilles Glauben an religiöser Einheit und Mystik beeinflusst (vgl. Neumann 2009:  Sp. 665; Pollmann 1982:  Sp. 653) . Der fortschreitende religiöse Charakter ihres Werks spiegelt sich später vor allem in der 1912 erschienenen Sammlung Hebräische Balladen wider. Laut Sigrid Bauschinger habe sie sich mit diesem Lyrikband bemüht, „[…] ‚eine Synthese von Deutschem und Jüdischem’ […]“( Neumann 2009: Sp. 666) hervorzubringen. Lasker-Schüler fühlt sich beiden Kulturen verbunden und versucht in ihren Gedichten eine Verbindung zwischen diesen herzustellen.

Christlich-jüdische Freundschaft

Der Brückenschlag zwischen der deutschen und der jüdischen Kultur wird ebenfalls in der Erzählung Arthur Aronymus thematisiert, eine Prosaskizze für das im selben Jahr erschienene gleichnamige Schauspiel. Der Titelheld ist das siebzehnte von dreiundzwanzig Kindern der Familie Schüler, die um 1800 im westfälischen Gaesecke lebt. Lasker-Schüler erzählt hier von der Kindheit ihres Vaters und mythisiert gleichzeitig ihren Urgroßvater Rabbuni Uriel, der ihren Vater, den kleinen Arthur Aronymus, von seinen Enkeln am meisten mag. Die Möglichkeit einer christlich-jüdischen Versöhnung wird in der Freundschaft des Rabbis mit dem fiktiven Bischof namens Matthias Lavater von Paderborn dargestellt, mit dessen Namen Lasker-Schüler möglicherweise auf den reformierten Pfarrer Johann Caspar Lavater anspielt, der zur Zeit der Aufklärung lebte. Auch Arthur ist eine vermittelnde Instanz zwischen christlicher und jüdischer Kultur: Von den Dorfbewohnern für christlich gehalten, wird er eines Tages vom Dorfpfarrer zur Bescherung ins Pfarrhaus eingeladen. Doch auch Arthur muss sich bald mit der Diskriminierung, von der sein Vater ihm erzählte, auseinandersetzen. Dem Pfarrer entfällt am Weihnachtsabend versehentlich eine abfällige Bemerkung über Juden. Und auch die Angst vor einem erneuten Pogrom ist stetig spürbar: Misstrauisch beäugen die Dorfbewohner Arthurs Schwester, die, weil sie sich aufgrund einer plötzlich auftretenden Nervenkrankheit merkwürdig verhält, als Hexe beschimpft wird. Die Idee der Toleranz und Menschlichkeit ist dennoch zentral: Sowohl die Erzählung als auch das Schauspiel enden mit einem gemeinsamen, versöhnlichen Essen zwischen beiden Parteien am Vorabend des Pessahfestes.

Hoffnung trotz Verfolgung und Verlust

Es ist offensichtlich, dass nicht nur die jüdische Abstammung Lasker-Schülers, sondern auch der mythisch-religiöse Einklang ihrer Texte, mit dem sie einen Brückenschlag zwischen jüdischer und deutscher Kultur versucht, ein Dorn im Auge der Nationalsozialisten ist. Im Jahre 1932 noch mit dem Kleist-Preis geehrt, wird Else Lasker-Schüler 1933 auf offener Straße tätlich angegriffen. Ihre Bücher werden verboten. Im April 1933 muss sie Berlin fluchtartig verlassen. Lasker-Schüler flieht zunächst in die Schweiz, wo sie aber aufgrund des verhängten Schreibverbots keine neuen Texte publizieren kann. 1934 unternimmt sie drei Reisen nach Palästina. Während einer dieser Palästinareisen wird Lasker-Schüler 1938 von den Nationalsozialisten ausgebürgert und muss im Exil in Jerusalem bleiben. Trotz der Verfolgung und des Verlusts ihrer Heimat gibt Lasker-Schüler die Hoffnung auf ein friedliches Zusammenleben zwischen Juden und Christen nicht auf. In ihrem 1937 erschienenen Prosaband Das Hebräerland idealisiert sie ihren Palästinaaufenthalt und erzeugt das Bild eines Landes, in dem Juden und Araber lernen sollen, friedlich miteinander zu leben (vgl. Pollmann 1982: Sp. 652; Neumann 2009: Sp. 664ff.) Ihr Schauspiel Arthur Aronymus kann im Schweizer Exil erst 1936 aufgeführt werden. Zwar wird das Stück vom Publikum positiv aufgenommen, die Zürcher Theaterkritik äußert jedoch, dass die durch das Schauspiel vermittelte Versöhnungshoffnung im Hinblick auf die Ereignisse nach 1933 naiv und überholt anmute. Dafür erhält die deutsche Erstaufführung im September 1968 im Wuppertaler Schauspielhaus gute Kritiken (vgl. Neumann 2009: Sp. 668).

Alles geahnt und dennoch nicht aufgegeben

Die Erzählung Arthur Aronymus ist in Deutschland, außer 1932 im Rowohlt Verlag, bisher nur im Jahre 1989 im Suhrkamp Verlag verlegt worden. Diese Ausgabe folgt hierbei dem Text der Gesammelten Werke, Band 2, die 1962 im Kösel-Verlag KG, München erschienen sind. Das Schauspiel hingegen wurde bereits 1965 im Deutschen Taschenbuch Verlag zusammen mit dem Stück Die Wupper veröffentlicht. Vereinzelt sind die dtv- und Suhrkamp-Ausgaben antiquarisch lieferbar. Zudem gibt es Übersetzungen des Schauspiels ins Italienische (1996 bei Marsilio erschienen) und Englische (2005 bei Northwestern Univ. Press). Das Schauspiel ist demnach im Gegensatz zur Prosaskizze verbreiteter.

Aus heutiger Sicht erscheint Lasker-Schülers Vorstellung eines friedlichen Miteinanders zwischen verschiedenen religiösen oder nationalen Gruppen im Hinblick auf die Geschehnisse des 2. Weltkriegs als leere Hoffnung. Insbesondere das Palästinabild, das sie in Das Hebräerland zeichnet, wirkt, wenn man den seit 1948 andauernden Nahostkonflikt betrachtet, teilweise zu akritisch. Doch es ist genauso irrig zu behaupten, Lasker-Schülers Werk sei anachronistisch. Arthur Aronymus erschien erst 1933, Das Hebräerland erst 1937. Demnach konnte Lasker-Schüler nicht ahnen, welch ungeheuerliche Ereignisse noch folgen würden. Ihr ein fehlendes Verständnis für Historizität vorzuwerfen ist auch deshalb nicht angebracht, weil sie in Arthur Aronymus beweist, dass sie sich der schwierigen Situation der Juden, die bereits vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten diskriminiert und verfolgt worden sind, bewusst war. Und deshalb gewinnt man beim Lesen der Erzählung auch den Eindruck, als habe Lasker-Schüler alles geahnt und dennoch die Hoffnung nicht aufgegeben.

Bibliographie

Else-Lasker Schüler: Arthur Aronymus. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1989 (Bibliothek Suhrkamp, Band 1002.

Neumann, Stefan: Else-Lasker Schüler. In: Arnold, Heinz-Ludwig (Hrsg.): Kindlers Literatur Lexikon. 3., völlig neu bearbeitet Auflage. Stuttgart, Weimar: J.B. Metzler Verlag, 2009.

Pollmann, Klaus Erich:. Else L.-Schüler. In: Neue Deutsche Biographie. Herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Dreizehnter Band. Berlin: Duncker & Humboldt, 1982.

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