Wo liegt es, das verlorene Paradies? Ist es eine raue Nordseeinsel? Ist es die Erinnerung an eine glorreiche Vergangenheit? Ist es der eine geliebte Mensch, der einen verlassen hat? Vielleicht finden sich Antworten auf der Vogelweide von Uwe Timm.
Von KARIN BÜRGENER
Die Insel ist karg. Keine Bäume, keine Autos, keine Menschen, kein Lärm. Nur das ewige Kreisen der Vögel, anbrandende Wellen, das Ziehen der Wolken, der Wechsel von immergleichen Tagen mit immergleichen Nächten. Das Aufregendste, was hier passieren kann, ist ein Sturm, der die Hütte schaukeln lässt.
Schon die utopischen Erzählungen der Renaissance verorteten die besten aller Welten auf Inseln fernab der Zivilisation. Auch Eschenbach, der einzige Bewohner und Vogelwart der kleinen Insel, hat sein eremitisches Eldorado auf der Vogelweide gefunden. Die Namensgebung der Hauptfigur und des Titels reicht ebenfalls weit zurück in die Literaturgeschichte, finden sich doch offensichtliche intertextuelle Anspielungen auf die mittelhochdeutschen Dichter Walter von der Vogelweide und Wolfram von Eschenbach.
Ganz allein ist er jedoch nicht, wie sich bald herausstellt. Die Vergangenheit scheint nicht vergangen, sie ist noch immer präsent und füllt ereignislose Stunden mit bitteren, beißenden, glänzenden, himmlischen und irrlichternden Erinnerungen.
Rekonstruktion eines Dekonstruierten
Und so füllen sich nach und nach die Leerstellen, bis sich das Bild eines Eschenbachs ergibt, das mit dem des einsamen Vogelwarts kaum etwas gemein hat. Denn die Ereignisse, die ihn hinaus aufs Meer trieben, nehmen ihren Ursprung im Berliner Intellektuellenmilieu, in Loftwohnungen samt Designercouch, Vorzeigekindern, Geldüberfluss und arbeitsamer Gedankenlosigkeit. Diese Rundum-Sorglos-Tristesse wissen zwei Menschen nicht zu schätzen: Eschenbach verliebt sich in Anna, obwohl er mit Selma zusammen ist. Anna verliebt sich in Eschenbach, obwohl sie mit Ewald zusammen ist. Faktoren wie gemeinsame Kinder, Häuser und Pläne verhindern, dass Anna und Eschenbach einfach glücklich werden können. Komplizierend wirkt sich außerdem aus, dass die Paare auch noch miteinander befreundet sind und gemeinsame Kochabende mit Kalbsbraten und Rinderherz mit viel Wein heruntergespült werden müssen.
Die Treffen in Weinlokal und Hotelzimmer, das schlechte Gewissen Annas und das Drängen Eschenbachs münden unausweichlich in eine Katastrophe. Nebenbei geht Eschenbachs Software-Unternehmen bankrott und er steht schließlich ohne Loftwohnung, Designercouch, Job, Freundin und Geliebte da – der perfekte Zeitpunkt, um sich auf eine einsame Insel zu verziehen.
Dass Anna ihn nach etlichen Jahren auf seiner Insel besucht, hat natürlich einen gewichtigen Grund, dem ein Hauch des Deus ex machina begleitet. Warum Eschenbach sie nach wie vor zu lieben scheint, ist ein Mysterium. Denn die Figur Annas umweht eine charakterschwache Doppelmoral: Während sie einerseits über das Bauprojekt ihres Architektenmannes in China lamentiert, über gewissenlose Galeristen herzieht und sich allgemein über das Elend der Menschheit auslässt, erscheint ihr ihre ausgepolsterte Kokonwelt doch als zu bequem, als dass sie einen tatsächlichen Neuanfang gemeinsam mit Eschenbach wagen würde. Auch eine Flucht nach Amerika erweist sich für sie auf tragische Weise als aporetisch. Ob es lediglich ihr messingfarbenes Haar ist, das Eschenbach so fasziniert?
Eine Poesie des Alltags
Was Begehren, Leidenschaft oder gar Liebe ist, konstruiert der Roman auf implizite Weise. Die großen Gefühle und die großen Fragen verbergen sich hinter einer Banalität des Dramas und einer Poesie des Alltags. Letztere ist signifikant für die semantische und stilistische Qualität dieses Romans. Alltäglichkeiten zu beschreiben, eine Liebesbeziehung zu zergliedern und den Fall eines strauchelnden Mannes in Einzelbilder zu zerlegen, ohne auf plumpe Plattitüden zurückzugreifen, rechtfertigt ohne Zweifel den Platz auf der Longlist des Deutschen Buchpreises, auch wenn das Werk leider nicht auf der Shortlist steht.
Uwe Timm erzählt die älteste Geschichte der Welt. Er erzählt vom Lieben und Entlieben. Er erzählt vom Scheitern und Wiederaufstehen. Er erzählt von Täuschung und Verrat. Er erzählt von Paradiesen, die immer verlorene sind, da sie in der Vergangenheit liegen. Am Ende wird klar, dass dies genau die Geschichten sind, die wir immer wieder hören wollen.
Nach Herrn Scheck ist der Roman die “Wahlverwandtschaften” unserer Zeit – so enthusiastisch hört man Denis Scheck über die Vogelweide sprechen…:-)
Hat dies auf Sätze&Schätze rebloggt.