Friedo Lampe schaffte es zwar, schreibend im Dritten Reich zu leben, doch sein schriftstellerisches Leben stand im Schatten des Nationalsozialismus. Nur vier Wochen nach Erscheinen seines Debütromans Am Rande der Nacht wird er zu Beginn des Jahres 1934 von den Nationalsozialisten verboten und hat keine Chance, von der Presse und dem zeitgenössischen Lesepublikum wahrgenommen zu werden.
von ANNIKA MEYER
Lampe ist zwar Mitglied der NSDAP, vermeidet den Kontakt zum Regime jedoch so weit wie möglich. Als Christian Moritz Friedrich Lampe am 4. Dezember 1899 in Bremen geboren, Promotion 1928 in Freiburg über Goeckingks Lieder zweier Liebenden, 1931 bis 1932 eine Ausbildung zum Verlagsbibliothekar – das ist eher die Karriere eines Literaten. Ab 1937 arbeitet Lampe als Verlagslektor bei Rowohlt in Berlin, wo er zuvor schon Am Rande der Nacht veröffentlicht hatte. 1940 bis 1945 arbeitet er als Lektor u. a. für Henssel. Zwar gibt es immer wieder Schwierigkeiten, doch Lampe schafft es, unter dem Druck und den damit einhergehenden Repressalien des Regimes weiterhin zu publizieren: Sein zweiter Roman Septembergewitter (1937) verkauft sich schlecht, bleibt aber auf dem Markt. Lampe, der wegen einer früheren Knochentuberkulose nicht in den Krieg eingezogen wurde, stirbt kurz vor Kriegsende am 2. Mai 1945, als er in Kleinmachnow bei Berlin von sowjetischen Soldaten für ein SS-Mitglied gehalten und erschossen wird.
Ein (zu) moderner Roman
Lampes Debüt sorgte gleich in mehreren Punkten für Missfallen bei den Nationalsozialisten. Es werden nicht nur die homosexuellen Neigungen des Ringers Hein Diekmann detailliert dargestellt, sondern auch das Verhältnis eines Stewarts zu seinem Kapitän: „[D]er politisch naive Lampe hatte es gewagt, am Beispiel von homosexuellem Sadismus und Masochismus die sadomasochistische Grundbefindlichkeit des zeitgenössischen Totalitarismus aufzudecken und ‚Quälerei‘ […] und ‚Menschenschinderei‘ […] als Epochensignatur für die bestehende ‚rohe Welt‘ […] auszuweisen […]“ (Denkler 2006: 137f.). Des Weiteren betont das Kindler Literaturlexikon die „moderne[], offene[] Form“, die „der politisch geförderten Aufbruchsstimmung unmittelbar nach der ‚Machtergreifung‘“ widersprach. Auch der Erzählstrang über eine Rattenplage, die nicht mehr aufzuhalten sei und vor der die Gesellschaft gewarnt werden müsse, lässt sich auf die politische Situation Deutschlands im Jahr 1933 beziehen.
Das Porträt einer Hansestadt
Die Handlung des Romans beginnt gegen 19.30 Uhr und dauert nur wenige Stunden. Es wird der Beginn einer lauen Spätsommernacht im September in Bremen präsentiert, die verschiedene Protagonisten auf unterschiedliche Art und Weise erleben. Da sind zum Beispiel die Studenten Oskar und Anton aus Marburg, die vor ihrer Abreise nach Rotterdam noch das Nachtleben im Astoria erleben wollen und sich um einen alten Studienfreund sorgen, der inzwischen als Stewart arbeitet und sich von seinem Kapitän peinigen lässt. Und der kleine Addi, der mit seinem dressierten Dackel Fips vor seinem tyrannischen Vater und dessen Hypnoseshow im Astoria fliehen will. Da ist der einsame Zollinspektor, der abends mit dem Erdkundelehrer Hennecke Briefmarken tauscht, dem aber die Bekanntschaft zum Würstchenverkäufer so peinlich ist, dass er seinen Imbiss lieber in den Wallanlagen alleine isst. Und Frau Jacobi, die Frau Mahler beiseite steht, als ihr Mann im Sterben liegt, und die den fortschreitenden Alterungsprozess auch bei ihrem Flöte spielenden Mieter Herrn Berg bemerkt. Derart tauchen noch viele weitere Figuren unterschiedlichen Alters und mit verschiedenen Erlebnissen auf. Sie alle verbindet die Stadt und diese eine Nacht. Erzählt wird aus verschiedenen Perspektiven, mal mit interner, mal mit Nullfokalisierung. Die Protagonisten sind einander oft wenig bis gar nicht bekannt, dennoch wird im Laufe des Romans ein Netz aus flüchtigen Begegnungen und anderen Querverweisen gezogen. Der Roman ist nicht in Kapitel unterteilt, sondern gliedert sich in Abschnitte, die teilweise durch Überblendungen zur jeweils nächsten Hauptfigur führen. Auch Herrn Bergs Flötenspiel verbindet verschiedene Passagen, indem z. B. Frau Jacobi und Frau Mahler, Herr Hennecke und der Zollinspektor diesem in der Wohnung bzw. im Garten lauschen. Ein richtiges Ende gibt es für keinen der Protagonisten – der Roman zeigt eher einen Querschnitt der Einwohner eines Stadtviertels und ihrer Schicksale.
Am Rande der Nacht ist gut zu lesen und weist mit seiner sequenzartigen und multiperspektivischen Erzählstruktur Parallelen zum filmischen Erzählakt auf. Überblenden und eine bildliche und detaillierte Darstellung der Atmosphäre bestätigen diesen Eindruck eines – auch für heutige Verhältnisse – modernen Romans. Universelle Themen wie Einsamkeit, jugendlicher Leichtsinn und sowohl psychische als auch physische Unterdrückung sind auch heute noch aktuell und die Charaktere verlieren trotz der zeitlichen Distanz nicht ihre Wirkung.
Ein langer Weg zum Original
Die Wiederauflage seines Debütromans erlebte Friedo Lampe nicht mehr. 1949 wurde er mit dem Titel Ratten und Schwäne neu aufgelegt, mit drei Gedichten aus Lampes Nachlass und herausgegeben von seinem Freund Johannes Pfeiffer, der jedoch drastische – nach seiner Aussage von Lampe gewünschte – Kürzungen vornahm. Heute ist das Buch in der 3. Auflage (1. Auflage 1995) im Wallstein Verlag Göttingen zu kaufen und beinhaltet den Originaltext sowie ein Nachwort des Herausgebers Johannes Graf, in dem er kurz Lampes Leben und die literaturwissenschaftliche Bedeutung seines Debüts darstellt. Trotz seiner großen Bedeutung für den modernen Roman ist Friedo Lampe in Deutschland relativ unbekannt geblieben. Das zeigen auch die Artikel gängiger Literaturlexika, in denen Lampe gar nicht oder nur spärlich vertreten ist. Lediglich zum magischen Realismus und über die unterdrückten Schriftsteller im Nationalsozialismus (u. a. Denkler 2006) gibt es Bücher, in denen sein Name genannt wird. Außerdem ist Am Rande der Nacht der Titel eines Lesebuchs über moderne Klassik im Dritten Reich (Schäfer 1984), in dem Lampes Roman als erstes Beispiel genannt wird.
Primärtext
Lampe, Friedo: Am Rande der Nacht. Mit einem Nachwort hrsg. v. Johannes Graf. Göttingen: Wallstein Verlag 2003.
Bibliographie
Denkler, Horst: Werkruinen, Lebenstrümmer: literarische Spuren der „verlorenen Generation“ des Dritten Reiches. Tübingen: Max Niemeyer Verlag 2006.
Schäfer, Hans Dieter (Hrsg.): Am Rande der Nacht. Frankfurt a. M./Berlin: Ullstein 1984.
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