Die meisten werden bei Daniel Kehlmann wohl an DieVermessung der Welt denken, doch sein neuer Roman F hat nicht besonders viel mit diesem Vorgänger gemein. Wer sich auf eine weitere humorvolle Erzählung einstellt, wird enttäuscht, denn F ist voll dunkler, nichtgreifbarer Vorahnungen und unheilvoller Träume.
von KATHARINA WINTER
Die Handlung des neuen Kehlmann-Romans ist an sich nicht umfangreich, wirkt aber durch unterschiedliche Perspektiv- und Zeitsprünge verstrickt. F erzählt von den Schicksalen dreier Brüder. Die Parallele zu Dostojewskis Die Brüder Karamasow ist sicher absichtlich, denn auch hier heißt einer der Brüder Iwan. Iwan und Eric – der eine telepathische Verbindung zu Iwan hat – sind ein eineiiges Zwillingspärchen. Martin ist der ältere Halbbruder der beiden. Eine Konstellation, an der die verschiedenen Fs angeschnitten werden, in die sich der Roman gliedert: Fatum, Familie, Fälscherei und Finanzen.
Drei Brüder
Zu Beginn des Romans befinden wir uns in der Kindheit der Brüder. Sie werden von ihrem Vater Arthur verlassen, als dieser durch ein Gespräch mit einem Hypnotiseur seinen zuvor verschollenen Ehrgeiz, ein erfolgreicher Schriftsteller sein zu wollen, belebt, und Arthur verschwindet, um eine große Karriere zu beginnen. Der zweite Teil des Romans ist aus der erwachsenen Perspektive Martins geschildert. Er ist inzwischen Priester. Ein Priester, der nicht glaubt und zum einen der Völlerei, zum anderen der Spielsucht – beschränkt auf Rubik´s Cube und Wettbewerbe ohne Geldeinsätze – frönt. Eric hingegen ist Investmentbanker. Er hat das ganze Vermögen seines besten Kunden in den Sand gesetzt, verbirgt dies aber vor ihm und auch vor seiner eigenen Familie, die an seiner geistigen und emotionalen Abwesenheit zerbricht. Seinen Bruder Martin verhöhnt Eric für seine Berufswahl. Iwan ist der Nachlassverwalter des Malers Eulenböck, der tatsächlich zwar Maler war, allerdings kein besonders erfolgreicher. Iwan verwirft nach einem Gespräch mit dem Hypnotiseur Lindemann seine Ambition, selbst Maler zu werden, fälscht aber weiter unter fremdem Namen Gemälde und erlangt so zwar Ruhm, aber keine Ehre. Eines Abends gerät Iwan in eine heikle Situation: Er beobachtet eine Prügelei zwischen drei Männern, greift ein und wird im Verlauf mit einem Messer verletzt. Iwan schleppt sich in ein naheliegendes Gebäude und kurz darauf bricht die Erzählung ab, da vermutlich Iwan seinen Verletzungen erlegen ist.
Die Romane des Vaters
Die Werke des verschollenen Vaters spielen eine wichtige Rolle in F. Mein Name sei Niemand ist, ähnlich wie das Werk, an das sein Name angelehnt ist – Max Frischs Mein Name sei Gantenbein – ein Gedankenexperiment, das mit Identität und Existenz spielt. Obschon er zunächst wie ein Adoleszenzroman anmutet, entwickelt er sich im Verlauf zu einem Infragestellen der Existenz des Lesers. So hat er ähnliche Auswirkungen wie Goethes Werther, nur dass die Leser in diesem Fall beim Versuch, ihre Existenz zu beweisen, umkommen. Arthurs Erzählung Familie beginnt wie folgt: „Man meint, die Verstorbenen wären irgendwo aufbewahrt. Man meint, dem Universum blieben ihre Spuren eingeschrieben. Aber das stimmt nicht. Was dahin ist, ist dahin. Was war, wird vergessen, und was vergessen ist, kommt nicht zurück. Ich habe keine Erinnerung an meinen Vater.“ Daraufhin wird in Fs nächstem Kapitel genau diese Erzählung wiedergegeben. Sie berichtet über sämtliche Vorfahren der Brüder und es fallen einige Parallelen zu den Leben der Brüder auf, auch wenn deren Bedeutung unklar bleibt.
Die Warnung
Im Umgang mit Tochter, Ehefrau und Geliebter scheint Eric sich an auswendiggelernten, hölzernen Phrasen entlang zu hangeln, in der ständigen Angst etwas anders zu tun als die anderen. Er kann schlecht zwischen seiner eigenen Wahrnehmung und der seines Zwillingsbruders unterscheiden. Seine Visionen und Paranoia versucht er mithilfe von Therapien in den Griff zu bekommen. Ihm erscheint ein Fremder und dieser warnt ihn etwas kryptisch, nicht einzugreifen. Doch diese Warnung gilt seinem Bruder Iwan, der sich nicht in die Prügelei einmischen soll. Am Ende bleibt nur eine schemenhafte Idee von dem, was passiert ist, nachdem Iwan bewusstlos wurde. Bewusst lässt Kehlmann Fragen offen. Indem uns eine seiner Figuren mit auf den Weg gibt, dass jeder seinen eigenen Lebensweg wählt, will Kehlmann das wohl auch dem Leser vermitteln. Mal abgesehen von der Innovationslosigkeit solcher Plattitüden ist Kehlmanns Text zu durcheinander, zu unfertig für derart klare Aussagen.
Auch wenn dies sicherlich gewollt ist, mit wenigen Überleitungen und Streichungen würde der Text an Strukturiertheit gewinnen, ohne das Stilmittel gänzlich zu tilgen. Die eigentliche Geschichte mit ihren Verstrickungen ist fesselnd. Doch dadurch, dass der Text selbst die Wendungen der Handlung nachzuahmen scheint, wirkt er überladen. Man kommt nicht umhin sich zu fragen, ob der Autor beim Schreiben in Eile war. Im Grunde interessante Ansätze werden nahezu beiläufig eingeworfen. Es entsteht allerdings keine homogene Textur, stattdessen bleiben die einzelnen Ideen mit der eigentlichen Handlung unverbunden. Und doch begegnet einem der kehlmannsche, anachronistische Stil wieder. Der Plot ist eine Akkumulation von Pro-und Analepsen sowie perspektivischen Wechseln, die den Roman spannend machen.
Auch die intertextuellen Bezüge zwischen den Romanen des Vaters und F sindinteressant, da sie den Leser ständig im Buch vor- und zurückspringen lassen. Darüber hinaus gibt es auch intertextuelle Bezüge zu bereits erwähnten Werken sowie einen Gastauftritt einer Figur aus Kehlmanns Ich und Kaminski. Unter anderem dadurch ist F ein lesenswerter Roman, trotzdem dürfte klar sein, warum es dieser Roman nicht auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises geschafft hat: Kehlmann möchte auf 384 Seiten einfach zu viele künstlerische Kniffe anbringen.
Danke für diese aufschlussreiche Besprechung – ich habe das Gefühl, dass gerade bei diesem Roman die Meinungen doch auseinander gingen. Von F wie Firlefanz (Spiegel), bis zu überschwänglichem Lob (Literarische Welt). Aus deiner differenzierten Besprechung lese ich Lob heraus, aber auch Kritik – ich habe das Buch hier bereits liegen und freue mich schon auf meine eigenen Eindrücke. 🙂
Also mal der Reihe nach: Daß Eulenböck nie Maler war, stimmt nicht, er hat selbst ein umfangreiches Werk vorgelegt. Die Erzählung bricht nicht kurz nach der Messerstecherei ab (Iwan stirbt, das ist eindeutig), sondern geht danach noch etwa fünfzig Seiten weiter, ein ganzer Hauptteil, erzählt aus der Perspektive von Erics Tochter Marie. Arthur Friedlands Text “Familie” ist kein Roman, sondern eine Kurzgeschichte, die vollständig in “F” enthalten ist. Was das alles mit “Wenn ein Reisender in einer Winternacht” zu tun hast, scheint mir ebenso schleierhaft wie die Frage, was “Kehlmanns anachronistischer Stil” sein soll. “Am Ende bleibt nur eine schemenhafte Idee was passiert ist” – das gilt ganz offensichtlich für die Autorin dieser Rezension, an sich müßte das aber nicht so sein.
Anmerkung der Redaktion: Katharina Winter hat den Kommentar zum Anlass genommen, faktisch falsche Wiedergaben aus dem Text zu streichen und anderes zu konkretisieren.