Das letzte Buch

Urs Widmer - Reise an den Rand des Universums   Cover: Diogenes„Kein Schriftsteller, der bei Trost ist, schreibt eine Autobiographie. Denn eine Autobiographie ist das letzte Buch. Hinter der Autobiographie ist nichts. Alles Material verbraucht. Kein Erinnerungsrätsel mehr.“ Urs Widmer tut es dennoch und beweist in Reise an den Rand des Universums, dass die Geschichte des eigenen Lebens zu erzählen weit mehr ist, als die letzten noch unverbrauchten „Tatsachen“ zusammenzutragen und sie dem Voyeurismus der Leserinnen und Leser preiszugeben.

von SOLVEJG NITZKE

Spätestens seit Goethe mit Dichtung und Wahrheit aussprach, was ohnehin jeder ahnte – dass eine Autobiographie, zumal die eines Schriftstellers, mindestens so viel von Ersterem wie von Letzterem enthält –, bewegt sich das Genre aus dem Bereich religiös inspirierter Bekenntnistexte (confessiones) in den Raum des Literarischen. Die Grenze zwischen Dichtung und Wahrheit, zwischen erlebten und erfundenen Tatsachen wird aber nie ganz überschritten oder – besser gesagt – sie wird andauernd überschritten, nur ist kaum festzustellen, aus welcher bzw. in welche Richtung. Eine Autobiographie zu schreiben, kann also tatsächlich als ‚letzte Aufgabe‘ des Schriftstellers verstanden werden, aber nicht, weil „hinter der Autobiographie [ … ] nichts“ ist, sondern weil sie die größte Herausforderung darstellt. Keine Figur kennt man so gut und so schlecht wie ‚sich selbst‘, nichts ist so flüchtig und doch so verlässlich wie die eigene Erinnerung, und was könnte leichter sein als die bedrohliche Aufgabe, sich an die Tatsachen zu halten? Mit Reise an den Rand des Universums stellt sich Widmer dieser Aufgabe und begreift sie als Spiel, als Herausforderung. „Kein Schriftsteller, der bei Trost ist, schreibt eine Autobiographie. […] Außer: Du machst, hoffentlich rechtzeitig noch, aus der Not eine Tugend. Tust das unabänderliche mit Lust und erfindest das Leben mit genau dem, was du erinnerst.“

Eine solche Erzählung ist zunächst auf das „Material [s]eines Lebens“ begrenzt und ihr Verlauf scheint vorgegeben zu sein. Sie ist aber auch in gewisser Hinsicht freier, denn der ‚Held‘ ist bekannt, der Ausgang noch nicht, aber doch die Richtung, die sein Leben nimmt. ‚Mit Erinnerungen erfinden‘ heißt also gerade nicht, einer Seite (Dichtung/Wahrheit) zu verfallen. Denn es ist nicht der Authentizitätsgrad, der Autobiographie und Roman unterscheidet, sondern der Sprachgestus. „[D]ie Gattung selber, die Autobiographie, scheint mir jede große Sprachgeste zu verbieten. Und ich liebe sie doch so, die erhitzte Sprache für den heißen Moment; das Pathos.“ Doch das Leben bietet selten (und im besten Falle) keine großen Stoffe, keinen Raum für Pathos. Nicht jede Figur, die auftritt, ist wichtig für die Entwicklung; manches wird erinnert, vieles nicht; doch die Versuchung, all dies in Pathos zu kleiden, ihm eine Richtung zu geben, die unweigerlich den Schriftsteller hervorbringt, ist groß. Widmer erliegt ihr nicht.

Vielmehr endet seine Autobiographie dort, wo – so könnte man sagen – das gemeinsame Leben mit seinen Büchern und seinen Lesern beginnt. Irgendwann setzt er sich eben an eine der Schreibmaschinen, die sein Leben begleiten, und schreibt. Kein Dichterpathos, kein lebenslanges Drängen zur Literatur – irgendwann hatte er etwas zu erzählen und schrieb es auf. Eine Wohltat. Widmers erfunden-erinnerte Erzählung seines Lebens, das heißt hauptsächlich seiner Kindheit und Jugend, in der selbst zu Kriegszeiten vergleichsweise beschaulichen Schweiz schlägt einen trotz ihrer „banal schmerzhafte[n] und gewöhnlich-glückliche[n]“ Natur in den Bann. Geschichte hat hier ihren Platz, aber es geht nicht um ‚die Geschichte‘. Bedeutsam bleibt, was das eigene Leben betrifft, zumal das, was man in seiner Kindheit erlebt. Vielleicht gerade weil sie nicht (im pathetischen Sinne) besonders ist, aber gut erzählt wird. Nicht großväterlich belehrend – auch wenn es das ein oder andere „Versuchen Sie das heute mal“ natürlich gibt –, sondern neugierig auf das, was sich Widmer selbst zu erzählen hat. Diese Autobiographie malt kein hagiographisches (Selbst)Portrait des Künstlers als junger Mann, sondern lädt dazu ein, den Erzähler-Autor auf die Reise an den Rand des Universums zu begleiten und/oder sich selbst auf die Reise zu machen. Ein tolles Buch!

Urs Widmer: Reise an den Rand des Universums
Diogenes, 346 Seiten
Preis: 22,90 Euro
ISBN: 978-3257068689

Ein Gedanke zu „Das letzte Buch

  1. Liebe Solvejg,
    ich freue mich, dass Du Urs Widmer auch so positiv erlesen hast. Mich hat er auch überzeugt mit seinen kleinen Geschichten und Anekdoten, die zeigen, wie sich jemand sein Leben erobert hat. Und seine Geschichten haben mich auch ganz nachdenklich gemacht darüber, in welchen zum Teil hysterischen Zeiten wir heute leben.
    Viele Grüße, Claudia

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