Normandie-Melancholie

Mirko Bonné - Nie mehr Nacht   Cover: SchöfflingIn Nie mehr Nacht erzählt Mirko Bonné von einem Künstler am Rande einer Zeichenblockade – und das mittels einer malerischen und stimmungsvollen Sprache, die aus seinen Worten Bilder macht.

von STEFANIE KÄHNE

Markus Lee fährt im Auftrag eines Hamburger Kunstmagazins in die Normandie. Jesse, der Sohn seiner toten Schwester, begleitet ihn. Ihr gemeinsamer Roadtrip, unterlegt mit der Musik Nirvanas, führt die beiden durch drei europäische Staaten bis an die Atlantikküste. Dort kommen sie in einem verlassenen Strandhotel, dem L’Angleterre, bei der Familie von Jesses bestem Freund unter. In der kalten Abgeschiedenheit dieses romantischen Ortes bemüht sich Markus darum, einen Zugang zu seinem verschlossenen Neffen zu finden und den auferlegten Zeichenauftrag zu erledigen. Doch die verdrängten Erinnerungen an seine Schwester Ira, die sich ein Jahr zuvor selbst das Leben nahm, machen ihm beides unmöglich. Bonné lässt die Leserin an vielen Stellen nah an Markus’ Seelenleben heran, zeigt dessen verirrte Gedankengänge und halbkritische Selbstbefragungen, verweigert aber unmerklich eine allzu klare Einsicht in die Zusammenhänge und Abgründe seines Inneren. Warum treibt Markus so rast- und haltlos durchs Leben? Warum verschenkt und entsorgt er immer mehr seines persönlichen Besitzes? Warum sperrt er sich dagegen zu zeichnen?

Ein Künstler ohne Farben

Die Auseinandersetzung mit der Kunst, ihren Aufgaben und Möglichkeiten ist essenziell für Markus’ Geschichte: „Immer hatte ich versucht, mit einer Zeichnung die Achtlosigkeit vergessen zu machen, zumindest war das meine Hoffnung gewesen. Seit es Ira nicht mehr gab, hatte ich anscheinend auch mit dem Hoffen abgeschlossen. Keine Zeichnung minderte oder linderte die Achtlosigkeit, nicht meine und nicht die der anderen.“ Markus nahm in seiner künstlerischen Perspektive die Welt stets voller Achtung und Respekt von allen Seiten in den Blick, suchte nach einer Form für ihren inneren Wert und porträtierte ihr Wesen anstatt ihres Aussehens. In einem solchen Prozess, im Ringen um den Gegenstand, traf er als Künstler auch auf sich selbst, die eigenen Ziele, Wünsche und Ängste – eine Begegnung, die er in seiner derzeitigen Lage flieht, weil seine Scheinreflexion an ihr zerbräche. Aus diesem Grund ist Markus zwar nicht in der Lage, selbst Bilder zu erschaffen, doch sein Künstlerblick auf die Welt bleibt bestehen. Da der Roman vornehmlich aus Markus’ Perspektive geschrieben ist, wirkt sich diese Sichtweise auch auf den Erzählstil aus. Der Erzähler sieht die Welt durch die Augen eines Malers, seine Beschreibungen der Natur sind so präzise und harmonisch wie klassische Landschaftsdarstellungen. Wenn Markus seine Lieblingsgemälde von Sisley, Dürer oder Runge aus der Erinnerung heraus beschreibt, sieht man sie förmlich vor sich. Wenn er auf seinen Streifzügen die ihn umgebende Natur betrachtet, ist es, als stünde man neben ihm. Der malerische Erzählstil, die fein gesetzten, behutsamen Worte und melodischen Sätze sind die Stärke des Romans. So verklärt der Blick des Erzählers auf die Welt passagenweise auch anmutet – er gibt den fokussierten Gegenständen doch eine neue Gestalt und bringt dadurch die Malerei, das Zeichnen, die Betrachtung von Kunstwerken so nah an die Leserin heran, wie es in wenigen anderen Roman geschieht. Für Momente bekommt man das Gefühl, als lerne man im Lesen die Welt neu zu sehen.

Lebendige Geschichte

Neben der Malerei ist auch die Historie im Roman von besonderer Bedeutung. Markus’ Auftrag besteht darin, Zeichnungen von vier Brücken anzufertigen, die bei der Landung der Alliierten im Sommer 1944 eine entscheidende Rolle spielten. Durch ein fingiertes Kriegstagebuch werden der Leserin die geschichtlichen Ereignisse rund um die einzelnen Brücken vermittelt, sogar längere Passagen werden zitiert um die Grausamkeit des Krieges hervortreten zu lassen und zu einem angemessenen Umgang mit der Vergangenheit aufzurufen – sei es der eines Volkes, eines Ortes oder eines einzelnen Menschen. Dies geschieht in einer gänzlich unaufdringlichen Manier: Die Originaldokumente stehen für sich und erzählen neben der Haupthandlung ihre eigene Geschichte. Verbunden sind die beiden Handlungsstränge nur durch die Brücken und die Identität des Tagebuchautors, der denselben Namen trägt wie Markus. Im Fortgang des Romans werden noch weitere Parallelen zu anderen literarischen Gestalten geknüpft, so zum Beispiel zu Gottfried Kellers Der grüne Heinrich oder verschiedenen Männerfiguren aus Hemingways Stories. Dadurch wird Markus’ Charakter jedoch keinesfalls greifbarer, sondern entzieht sich nur noch stärker den Fesseln der Konsistenz.

Come as you are“

Im Laufe des Romans erhält die Sinnkrise in Markus’ Leben eine immer schärfere Kontur und die Leerstellen um ihn herum gewinnen Gehalt: seine Angst vor der Dunkelheit, seine Rastlosigkeit, seine Zeichenblockade. Mirko Bonnés Erzählung erschöpft sich jedoch bei Weitem nicht in der bloßen Darstellung einer psychischen Krise. Die verschiedenen Anspielungen, Namensnennungen und Nebenhandlungen im Text vergrößern den Horizont des Romans und werfen Fragen zu Kunst, Geschichte, Trauerbewältigung, Glück, Erinnern und Vergessen auf. Sie unterlegen den Roman mit seinem eigenen Soundtrack, auf dem Nirvana, Joy Division und Fleetwood Mac singen und geben ihm eine Bildlichkeit, die sich der klassischen Malerei, der Lasur Cézannes, der Skizzen Dürers und der Formen Rothkos bedient. Nie wieder Nacht ist melancholisch, ruhig, eindringlich und schön geschrieben – kurz: lesenswert. Die Nominierung für die Shortlist des Deutschen Buchpreises 2013 ist der beste Beweis dafür.

Mirko Bonné: Nie mehr Nacht
Schöffling & Co., 360 Seiten
Preis: 19,95 Euro
ISBN: 978-3-89-561406-4

Ein Gedanke zu „Normandie-Melancholie

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