Das Richtungsding – Zeitschrift für junge Gegenwartsliteratur VI feierte bereits am 27. September mit einer Lesung im Ringlokschuppen Mülheim Premiere. Das Publikum ermittelte via Abstimmung den diesjährigen „Jahrgangsprimus“ und hatte diesmal in einem internationalen AutorInnenfeld die Qual der Wahl. Ein abwechslungsreicher Abend mit stilistisch und formal äußerst unterschiedlichen Texten und einem Überraschungssieger machen auch Lust auf die sechste Ausgabe in gedruckter Form.
von NADINE HEMGESBERG
Ich erinnere mich noch gut an die Lesung des Richtungsdings IV vor gut zwei Jahren. Mein Sitzfleisch war gemartert, meine Ohren quollen über, die literarischen Synapsen waren etwas überbefriedigt und es gewann Corinna Gerhards, die im besten Sinne bleibenden Schaden anrichtete: Die Bremer Schriftstellerin und Drehbuchautorin rückte nämlich nicht nur dem unschuldigen Gemüse in ihrer Kurzgeschichte Geschälte Tomaten zu Leibe, sondern ging auch dem Zuhörer vortragssicher und mit schneidender Intonation unter die Haut. Auch in diesem Jahr konnte sie mit gutem schriftstellerischem Handwerk, dem Text – Schokoladentage –, bei dem alles Überflüssige hinausgestrichen und an dem bis zur letzten Silbe gefeilt wurde, mit Sicherheit nicht nur unter meinen gefühlten FavoritInnen landen. Die Mehrheit des Publikums konnte jedoch ein anderer mit seinem Text Karriere vollends für sich gewinnen: Christof Wolf. Ein gut durchkomponierter Text über die imaginierten Verknüpfungen von Handlungen, Stimmungen und Entscheidungen, die sich wie der oft beschworene Schmetterlingseffekt in das Leben schreiben, wobei die Erzählung die – manchmal fast magisch anmutenden – Momente von unerwarteten Verbindungen beinahe greifbar macht. Mit Witz und Charme vorgetragen, konnte sich Wolf unter anderem gegen die Ultra-Kurzprosa von Martin Wessely, die ins Deutsche übersetzte russische Lyrik von Anastasia Vekshina – die extra aus Gdansk angereist kam und ihre Texte im Original las –, Esther Laufers nostalgische Retrospektive auf das „Trinkpäckchen“, Viktor Grambachs Ballade Annelie und Glauconar Yues Kurzprosa durchsetzen. Esra Canpalat, eine unserer Stammautorinnen auf literaturundfeuilleton, trug ihren Text Mahmur vor, der rund um eine Silvesternacht und das Verhältnis eines Mädchens zu seiner Mutter kreist – Coming-of-Age im Kurzformat.
Ansprechende Vielfalt
Eine wirklich sehr ansprechende Auswahl und differierende Textsorten sorgten für einen entspannten und abwechslungsreichen Abend. Die Öffnung der Zeitschrift für junge Gegenwartsliteratur aus ganz Europa ist eine erfreuliche Neuerung, auch wenn diese Bezeichnung, das Attribut „jung“ angesichts der sich teilweise in den besten Jahren befindlichen AutorInnen mit ihren diversen schon veröffentlichten Texten nicht immer ganz treffend scheint.
Auch in der Redaktion vom Richtungsding ist eine Autorin von uns anzutreffen, Lina Brünig verstärkt seit dieser Ausgabe das fünf-köpfige Team rund um Jan-Paul Laarmann. Eine weitere Neuerung soll es bei der nächsten Ausgabe, dem Richtungsding VII, geben: Zum ersten Mal gibt die Redaktion ein Thema vor: Nord. Gesucht werden Texte jedweder Form und Art, ob Prosa, Lyrik oder Experimentelles, Hauptsache sie kreisen um Nord bzw. den Norden. Wir wünschen weiterhin viel Erfolg bei der Suche nach tollen Texten und vielversprechenden AutorInnen aus dem In- und Ausland.
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