Der kanadische Comiczeichner Guy Delisle begleitet seine Frau, die für MSF (Médecins sans frontières, dt. Ärzte ohne Grenzen) arbeitet, für ein Jahr mit den Kindern nach Jerusalem. Er sucht eine Kita für die Kleinen, ist Hausmann und Vater, Tourist, Lieblings-Frühstücks-Flocken-Esser und Comiczeichner – wandernd zwischen arabischen Vierteln und jüdischen Siedlungen geht er auf Entdeckungsreise. Aufzeichnungen aus Jerusalem, eine Graphic Novel von Guy Delisle.
von CHRISTOPH BÜRGENER
Delisles Graphic Novel, auch grafischer Roman, Aufzeichnungen aus Jerusalem ist autobiografisch: Er selbst zeichnet sich als Figur Guy Delisle, den Comiczeichner – auf der Suche nach geeigneten Motiven in Jerusalem. Seine Aufzeichnungen erzählen von den alltäglichen Dingen; wie den Widrigkeiten in Ost-Jerusalem, dem Wassermangel im Sommer, aber auch vom Einkaufen, die Kinder zur Kita bringen und wieder abholen und – müde seines erhabenen Schicksals – Vater und Hausmann zu sein, bei dem die Kleinen jetzt erst richtig loslegen. Zugleich ist er auch der Comiczeichner, der seine Umgebung beobachtet und in Skizzen festhält.
Am Schreibtisch sitzend oder in der Küche stehend muss er oft um die nötige Konzentration für seine Arbeit ringen. Er zieht los und stellt seine Arbeiten an der Universität von Nabulus aus, hält einen Vortrag über den Comic in Hebron oder gibt Zeichenkurse, um mit den dortigen Zeichenbegeisterten ins Plaudern zu kommen.
Er wandert durch orthodoxe Viertel und stößt auf Menschen, mit denen er über seine Skizzen ins Gespräch kommt. Allerdings ist ihm nicht jeder gut gesonnen, so dass er beispielsweise von dem Militär verscheucht wird, weil er gerne an einer öffentlichen Stelle einen riesigen israelischen Wachturm zeichnen möchte. Einige Kilometer entfernt setzt er sich auf eine Bank und nimmt sich von dort aus Protest sein Motiv von Neuem vor. Aber auch Delisle ist nicht immer bester Laune. Wenn sich in seiner Sprechblase ein Knäul, ein Wirrwarr aus zerknüllten Linien bildet, dann ist er in Rage – es ist die Sprache des Comics. Die Sprechblase ist ein zweiter Raum des Kopfes. Wenn Delisle wieder auf einer der vielen NGO-Partys (NGO = Nichtregierungsorganisation) war, dann erscheinen über seinem Kopf kleine wirbelnde Kreise, die sein Betrunkensein anzeigen.
Die Lieblings-Frühstücks-Flocken hinterfragen
Vor der Haustür findet er reichhaltige Eindrücke vom Leben, die er in seinen grafischen Roman fließen lässt. Dort draußen erkundet er nicht nur einen geeigneten Spielplatz für seine Tochter Alice und seinen Sohn Louis, sondern ebenso die Stadt selbst. In seiner freien Zeit ist er klassischer Tourist. Er nimmt israelische Busse und arabische Minibusse, um zu den hiesigen Örtlichkeiten zu gelangen. Er versucht mehrmals, den vom Militär gut bewachten und von verschiedensten terminierten Schleusen zugänglichen Tempelberg zu erreichen.
Bei einem seiner Spaziergänge vom arabischen Viertel in die jüdische Siedlung stößt er auf einen riesigen Supermarkt. In dem findet er seine Lieblings-Frühstücks-Flocken Shedded Wheat. Allerdings mahnen ihn Aussagen anderer gegen den Kauf: „Bei den Siedlern kaufen heisst die Siedlungspolitik zu unterstützen!“ Die Stimme eines Freundes dagegen kommentiert grundsätzlich das Einkaufen im Siedlungsladen: „Ach, eine Packung Windeln wird nicht gleich ihren ganzen Friedensprozess torpedieren.“ Zögernd vorm Regal der Lieblings-Frühstücks-Flocken, verkneift er sie sich lieber: „Pah! Wir haben erst September, eine Weile werd ich wohl noch durchhalten. Stark bleiben.“ Ironie und Neugierde an seinem Umfeld sind Delisles große Impulse in seiner Erzählung. Delisle schafft es auf klare Weise das Leben zwischen den dortigen Religionsgruppen und deren jeweiligen Interessen israelischer Siedlungspolitik und palästinensischem Widerstand darzustellen und grafisch zu hinterfragen. Hierzu zeichnet er beispielsweise kleine geografische Karten zur Erläuterung von Grenzziehungen, er berichtet von der Siedlungspolitik durch Hausräumungen des israelischen Militärs oder er sitzt am Tisch von NGO-Mitarbeitern bei deren Gesprächen er zuhört: „Laut der israelischen Regierung sind wir in Israel, gar keine Frage. Für die internationale Gemeinschaft, die die Annektierung von 1967 nicht anerkennt, sind wir im Westjordanland, das einmal Palästina werden soll (falls es jemals dazu kommt).“
Delisle selbst versucht, die Konflikte und Grenzziehungen nachzuvollziehen und stellt Fragen, wodurch der Betrachter und Leser fast am selben Tisch sitzt und mit zuschauen kann.
Guy läuft ins Geschehen hinein
Delisle erzählt von vielen kleinen Begebenheiten; wie dem Start eines Tages und seinem Aufbruch zu einem Ausflug mit dem Auto. Die Straßen sind plötzlich mit Betonklötzen blockiert und seltsamerweise fahren alle mit dem Rad. Es ist Jom Kippur. Sein Stadtviertel ist dicht. Auch viele Felder von palästinensischen Bauern sind mit Betonklötzen blockiert – diese jedoch über das ganze Jahr hinweg. Der ahnungslose Tourist Guy kommt einfach nicht weg. Er versucht es am nächsten Tag wieder, an dem ihm zwar kein religiöser Feiertag in die Quere kommt, doch dafür die Tücke des Alltags. Guy ist gelegentlich der Tollpatschige, dem sein Schlüssel in den Aufzugschacht fällt. Doch er gibt nicht auf. Mit einer selbstgebauten Konstruktion versucht er, sich den Schlüssel zu er-angeln. Seine Kinder stehen fragend neben ihm und wundern sich über des Vaters komisches Verhalten.
Sein Alltag besteht aus dem Suchen und Finden von wertvollen Orten. Im Aufbruch und Weg zu herrlichen Bauten oder einer NGO-Party liegen mögliche Geschehen, Menschen und örtliche Hindernisse, wie die ständige Überquerung von Sicherheits-Checkpoints des Militärs. Außerhalb von Jerusalem paart Guy Delisle die Strandidylle am Meer mit Kampfjets am Himmel, die sich auf dem Weg zum Gaza-Streifen befinden.
Er nimmt verschiedene Rollen wie die des Touristen, Comiczeichners, aber auch die des kindlich-quirligen Vaters an und ist zugleich Zeichen-Kritiker mit einem selbstironischen Ton. Er erzählt von dem Leben in einer Stadt, die reich an alten Bauten und Gebräuchen ist, aber ebenso von Spannungen und Konflikten heimgesucht wird.
Aufzeichnungen aus Jerusalem reiht sich in das Genre des Reportage-Comics ein, wie Joe Saccos grafischer Roman Palästina. Delisle erzählt in den klassisch gerahmten und ruhigen Panels von Ort zu Ort, wie es wohl nur der grafische Roman durch seine Synthese von Bild und Text schafft, eine Stadt wie das politisch und kulturell konfliktgeladene Jerusalem zu erkunden.
Weitere Werke Guy Delisles
Delisle hat für Animationsstudios in Kanada und Europa gearbeitet. Für diese Studios reiste er in den asiatischen Raum, in dem heutzutage die Animationen am günstigsten angefertigt werden können. Dort arbeitete und lebte er in Hotelzimmern und machte seine Beobachtungen, die er grafisch in Shenzhen (2000) und Pjöngjang (2007) festgehalten hat. Seine Aufzeichnungen aus Birma (2009) rühren ebenfalls aus der Begleitung seiner Frau, die dort für eine NGO tätig war. Er erkundete aber nicht nur diktatorische und konfliktbeladene Städte, sondern ebenso das pure Vatersein; welches in reiner Grafik ohne Text von seinem Sohn und dessen Abenteuer samt einem Retter, dem Stofftier-Esel als Deus ex machina, auf der Skipiste und am Strand erzählt – in Louis fährt Ski (2007) und Louis am Strand (2009). Sein neuster grafischer Roman ist ein kleiner Ratgeber für schlechte Eltern (2013), in dem er sich auf komischem Wege der Vaterrolle als Anti-Ratgeber – Pro-Ironie – widmet.
Guy Delisle: Aufzeichnungen aus Jerusalem
Aus dem Französischen von Martin Budde
Reprodukt, 336 Seiten
Preis: 29,00 Euro
ISBN 978-3-943143-04-1
Alle deutschen Texte Guy Delisles sind bei Reprodukt erschienen.
Hier finden sich allgemeine Informationen über die Graphic Novel (grafischer Roman).