Welches Schicksal muss einen Menschen ereilen, damit er freiwillig den langweiligsten Job der Welt am langweiligsten Ort der Welt erledigt? Der Bleiche König, der letzte Roman von David Foster Wallace, stellt einen Platz vor, um den die meisten lieber einen großen Bogen machen: die US-amerikanische Bundessteuerbehörde.
von KARIN BÜRGENER
„Ryne Hobratschk blättert eine Seite um. Latrice Theakston blättert eine Seite um. Standartprüfergruppenraum 2 gedämpft und hell erleuchtet, ein halbes Fußballfeld lang. Howard Cardwell setzt sich auf dem Stuhl zurecht und blättert eine Seite um. Lane Dean jr. fährt mit dem Ringfinger seine Kinnlade nach. Ed Shakleford blättert eine Seite um. Elpidia Carter blättert eine Seite um. Ken Wax heftet ein Memo 20 in eine Akte. Anand Singh blättert eine Seite um. Jay Landauer und Ann Williams blättern fast synchron eine Seite um, obwohl sie in verschiedenen Reihen sitzen und sich nicht sehen können.“
Dieser Ausschnitt beschreibt minutiös, was sich zu beliebiger Zeit in der Steuerbehörde ereignet – tagein, tagaus, ohne Aussicht auf Veränderung. Ähnlich wie bei Kafkas Das Schloss, gibt es kein Entrinnen aus diesem stupiden System, das auf einer Wiederholung des Immergleichen beruht – ohne dass es hier jedoch eine Figur gibt, die die Absurdität des Ganzen zu durchbrechen versucht.
Ein literarischer Tornado
Wallace bezeichnete seinen eigenwilligen Schreibstil als „tornadisch“. Folgt man dieser Selbstbeschreibung, ließe sich das 25. Kapitel des bleichen Königs, aus dem die einführende Passage stammt, als Mittelachse des Romans und Auge des Tornados lesen. Und so drehen sich die weiteren Kapitel um diese unfassbar eintönige Tätigkeit, die der Tornado ins Auge fasst und so einen Moment des Stillstands erzeugt. Sie machen sich wirbelnd auf die Suche nach dem Grund: Warum tun Menschen so etwas? Wer gibt sich lebenslänglich einem System preis, dessen größte Herausforderung die strukturelle Langeweile ist? Das scheinen die zentralen Fragen des Romans zu sein. Es wird jedoch weniger eruiert, welche Auswirkungen eine solche Stupidität auf das Innenleben und die Selbstkonstitution einer Person hat, vielmehr liegt der Fokus auf den individuellen, tragisch-komischen, bisweilen furchtbaren Schicksalsgeschichten, die die Figuren mit sich herumtragen. Die These lautet: Man muss schon aus einem ganz speziellen Holz geschnitzt sein, um sich freiwillig in diesen unfassbar öden Staatsdienst zu begeben.
So ist Leonard Steyck ein unerträglicher Altruist, der als Opfer einer Prügelattacke in der Highschool seine Peiniger zu einer Aussprache samt Snacks und Getränken einlädt, in der Hoffnung, auf solch krudem Wege könne sich womöglich eine Freundschaft ergeben. Chris Fogle erzählt im längsten, über 100 Seiten starken Kapitel von einer psychedelischen Jugend in den 1970ern, vom Unfalltod seines Vaters, den eine U-Bahn ins Jenseits schleifte, und von seinem Wunsch, ihn mit Stolz zu erfüllen. Tony Ware wächst in einer Wohnwagensiedlung auf und stellt sich tot, während der Freund ihrer Mutter diese mit einem Lappen erstickt. Und es tritt ein David Wallace auf, dessen Nebenjob während des Studiums darin besteht, als Ghostwriter für andere Studenten Hausarbeiten und Essays zu verfassen, was zu einer etwa einjährigen Suspension führt, in der er sich bei der Steuerbehörde verdingt.
„Wahrer Mut bedeutet, über lange Zeit hinweg auf engem Raum Langeweile zu ertragen.“
Eine Hauptfigur sucht man in diesem posthum erschienenen, nun in deutscher Übersetzung von Ulrich Blumenbach (der bereits Infinite Jest übertrug) vorliegenden Roman vergeblich. Die auftretende Autor-Figur, die sich erst in Kapitel 9 in einem Vorwort des Autors zu Wort meldet, gibt vor, es handele sich im zugrunde liegenden Schriftstück um ein autobiografisches Werk.
Dennoch sind die Auftritte der Figur David Wallace zu sporadisch, als dass sie die Intention einer fiktionalen Autobiografie erwecken könnten. Als Hauptprotagonist dieses Romans scheint vielmehr ein abstraktes System zu fungieren. Dieses ist in der Lage, wie ein Tornado auch, Menschen Dinge und ganze Orte zu absorbieren und an anderer Stelle wieder auszuspucken; in diesem kreisen und wirbeln die oftmals verwirrenden Handlungsstränge. Der titelgebende Bleiche König, der innerhalb des Romans keine Erwähnung findet, erscheint somit als Allegorie der verzehrenden Langeweile und beherrscht die bürokratische Gegenwart nicht von einem „sonnenköniglichen“ Palast aus, sondern von einer L-förmigen Betonscheußlichkeit. Seine Diener sind die Krieger der Postmoderne, die gegen den Feind der Eintönigkeit ankämpfen: „Das ist der Schlüssel zum modernen Leben. Wenn man gegen Langeweile immun ist, gibt es buchstäblich nichts, was man nicht erreichen kann.“
Im Vergleich zu Infinite Jest (Unendlicher Spaß, dt. 2009) erscheint dieser Text zwar wesentlich zugänglicher, dennoch verlangt der fragmentarisch gebliebene Roman dem Leser einiges an Assoziation und Imagination ab, was ihn nicht zu einem Buch macht, das man mal eben zum Entspannen lesen kann. In der Tradition der großen Schriftsteller des Absurden wie Bulgakow oder Kafka, widmet sich der Text einer monströsen Bürokratie, deren größtes Paradoxon wohl darin besteht, dass sie als selbstverständlich, unvermeidlich und unersetzbar angesehen wird. Wer sich dieser anspruchsvollen, wie kryptischen Lektüre widmet, kann sich an einem scharfsinnigen Humor, brillanten Satzkonstruktionen und einer unkonventionellen Stilistik ergötzen. Der einzige Wermutstropfen liegt darin, dass es sich wohl endgültig um das letzte Werk des Autors handelt, der 2008 den Freitod wählte.